Medikamentenversuche

Briefe / Mitteilungen
Édition
2019/45
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.18343
Bull Med Suisses. 2019;100(45):1495

Publié le 06.11.2019

Medikamentenversuche

Vergebens suchte ich in der Schweizerischen Ärztezeitung eine Stellungnahme oder einen Leserbrief zur aufgeworfenen Polemik der «Medikamentenversuche in der Psychiatrischen Klinik Münsterligen». Die Untersuchung wurde durchgeführt von der Abteilung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich; die Resultate dieser «Forschungsstudie» wurden in Buchform zusammengefasst der Presse vorgestellt.
Medizingeschichte ist auch Menschheits­geschichte und gehört im Kontext analysiert: Wie verhielt sich die Gesellschaft zur psychischen Krankheit, wie konnten psychisch Kranke «sozialisiert» werden, damals, als die einzige Möglichkeit bei schwerst kranken ­Patienten die zwangsmässige Ruhigstellung und allenfalls der Elektroschock darstellten? Die Entdeckung der wirksamen medikamentösen Behandlung entsprach einer kopernikanischen Wende, und es ist leider fast gesetz­mässig, dass Übergänge und Veränderungen, auch wenn sie zu Verbesserung führen, häufig über Leid entstehen. Damit soll keinesfalls entschuldigt oder beschönigt werden, wenn Unrecht geschehen ist. Doch steht es nicht an, 80 Jahre später zu unterstellen, dass diese ­Veränderungen böswillig, unwissend oder auf Kosten von Schwächeren und letztlich noch zur eigenen Bereicherung vorgenommen wurden. Die erstmals angewandten Substanzen waren nicht für die Psychiatrie entwickelt worden, und es war ein glücklicher Zufall, dass deren hilfreiche Wirkung (Serendipity) sozusagen «off-label» erkannt wurde, dies in einer Zeit, als noch nicht einmal eine saubere Diagnostik für psychische Krankheiten vorlag.
So wäre eine klärende Stellungnahme (sinnvollerweise eines Kollegen aus der Psychia­trie oder auch eines unvoreingenommenen Historikers) nützlich. Nicht zuletzt könnte auch der Vergleich mit umliegenden Ländern herangezogen werden, wo politische Gesinnung der Gesellschaft die Lebensqualität der Kranken bestimmte (Verweis auf Basaglia in den 60er Jahren). Psychisch Kranke waren immer und überall die Ärmsten der Armen, und die Einführung einer medikamentösen Therapie bedeutete den Durchbruch.
Im angeführten Rapport wurden die Protokolle der pathologisch-anatomischen Untersuchungen nicht konsultiert, die über Todesursachen hätten Klarheit geben können. Diese Protokolle liegen vor und sind einsehbar, damit wären möglicherweise die reisserischen Titel nicht in Umlauf gesetzt worden wie
– «36 Todesfälle nach Medikamenten-Versuchen» (Tages-Anzeiger, 9.10.2019) oder
– «Millionen für Tests an Menschen» (Beobachter 20/2019),
– «Ein Oberarzt ohne Hemmungen, der Pa­tienten als Versuchskaninchen benutzte» (NZZ, 24.9.2019),
– «Wie Arzneiversuche am Menschen ablaufen» (Tagblatt Zürich, 2.10.2019).
Resultate werfen immer auch ein Licht auf die Untersuchenden, und die Frage stellt sich, was trieb sie an? War es wissenschaftliche ­Neugierde, die Suche nach Objektivität? Oder könnte es sein, dass mit der Brille der «Jetzt-Zeit» Bestätigung eines Vorurteils gesucht wurde, und dabei musste geradezu auf wissenschaftlich präzise archivierte Berichte (Pathologie) verzichtet werden? Geht es darum, einmal mehr zu polarisieren und Effekt zu ­erhaschen? Dieses Ziel wurde zweifellos erreicht, und einmal mehr wird auf der Angeklagtenseite geschwiegen.