Nationales Krebsregister

Nationales Krebsregister: Müssen wir uns diesen bürokratischen Wahnsinn gefallen lassen?

Tribüne
Édition
2019/49
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.18327
Bull Med Suisses. 2019;100(49):1677-1678

Affiliations
PD Dr. med., Pneumologe, Winterthur

Publié le 03.12.2019

Das nationale Krebsregister wird auf Anfang 2020 eingeführt. Wir Ärzte werden verpflichtet, praktisch alle relevanten Dokumente von Krebspatienten einfach so weiterzugeben. Plötzlich sind wir in der Bringschuld. Sind wir gefragt worden, ob wir das wollen? Ob wir in unserem sonst schon äusserst arbeitsintensiven Alltag überhaupt dazu in der Lage sind?
Normalerweise müssen Forschungsprojekte diverse Ethikstufen durchlaufen. Teilnehmende ÄrztInnen und PatientInnen müssen zustimmen, dass ihre Daten gesammelt werden dürfen. Sie können ihre Zustimmung jederzeit und ohne Begründung zurückziehen. Die erhobenen Informationen müssen im Kontext der Fragestellung sinnvoll und nachvollziehbar sein. Ob all diese Vorgaben beim Krebsregister ebenfalls eingehalten werden müssen, entzieht sich meiner Kenntnis. Tumor-PatientInnen werden informiert, dass alle Daten zur Diagnostik, Therapie und dem Behandlungsresultat in nicht-anonymisierter Form weitergegeben werden. Die Ärzte, welche diese Daten generieren und dem Register abliefern werden, sind nicht gefragt worden, ob sie dies wollen. Sie sind nicht darüber informiert worden, wie diese sensiblen Daten ausgewertet sowie publiziert werden und wem sie letztlich zugutekommen. Viele Fragen sind offen.

Reiner Top-down-Approach

Es ist ein Top-down-Approach. Die Ärzteschaft war vielleicht mit ein paar Vertretern in einem Gremium dabei, aber die Mehrheit ist sicher nicht angehört worden. Wir Ärzte werden einmal mehr vor vollendete Tatsachen gestellt. Anstatt das Ganze mit einem grossen Fragezeichen zu versehen, ducken wir uns und denken, dies sei wieder eine der Rahmenbedingungen, die wir einfach hinnehmen müssten. Sollen wir uns wehren? Auch noch das Krebsregister bekämpfen, wo wir sonst schon so viele Fronten haben? Einfacher ist es, sich dieser bürokratischen Vorgabe unterzuordnen – obwohl man nicht ganz überzeugt ist vom Sinn oder Unsinn dieser Massnahme.
So nicht! Was erhalten wir als Gegenleistung für diesen grossen Mehraufwand? Welche IT-Systeme werden uns zur Verfügung gestellt, um den Transfer der gewünschten Daten effizient zu gestalten? Das Krebsregister darf uns nicht noch mehr Arbeit aufbürden. Welche Zertifizierung erhalten wir dadurch? Oder ist es andersrum? Wird das Register zum Sanktionstool werden? Wer nicht liefert, darf keine Krebspatienten mehr behandeln? Lassen wir uns so geisseln? Die in der Tumordiagnostik und -therapie involvierten Ärzte sollten zusammenstehen und sagen: «Halt!»

Fehlende Infrastruktur, 
unklares Konzept

Es erstaunt, dass das nationale Krebsregister und der damit verbundene Aufwand kaum in der Ärztezeitung und in weiteren Medien thematisiert worden ist [1]. Wahrscheinlich werden die kritischen Stimmen erst dann laut werden, wenn das Ausmass des Aufwandes ersichtlich wird.
Nehmen wir einmal an, dass der Bund den teilnehmenden Spitälern (und Praxen) ein klinisches Informationssystem und den damit verbundenen Einführungsaufwand vollumfänglich bezahlt. Dann, und erst dann wären die Voraussetzungen gegeben, dass eine Win-win-Situation für alle Beteiligten entsteht.
Müssen wir Ärzte wirklich etwas umsetzen, bei dem wir potentiell das Arztgeheimnis unterwandern – nur weil der Gesetzgeber zu einer «Controlitis crepitans» ausholt? Wo wir doch gar nicht sicher sind, ob die Daten­manager mit diesen Informationen überhaupt etwas Vernünftiges machen werden. Daten sammeln einfach so, damit man sie hat, falls man irgendwann eine Frage beantworten möchte, das ist nicht legitim – ausser man nennt es ein «Register». Aber Register werden in der Regel für seltene Krankheiten angelegt, damit man gezielt Fragen beantworten kann, die man sonst aufgrund der kleinen Fallzahlen nicht beantworten könnte. Aber hier geht es um Tumorerkrankungen, zahlreiche Tumorerkrankungen, zusammengerechnet wahrscheinlich die grösste Patientengruppe überhaupt. Viele Menschen sind im Laufe ihres Lebens ­davon betroffen: von einem Hauttumor, einem Darmtumor, Brustkrebs, Prostatakrebs oder einem Lungentumor. Stellen wir uns einmal vor, was das für eine Datenflut ergibt. Kann man all diese Daten überhaupt sinnvoll verarbeiten? Das geht kaum, ausser man hat unlimitierte Ressourcen. Woher sollen diese kommen? Von den Steuergeldern? Treibt diese Kontroll- oder Forschungsmassnahme die Gesundheitskosten nicht zusätzlich in die Höhe? Sind wir Ärzte bereit, dieses Spiel mitzumachen? Meine Antwort lautet klar: NEIN. Es sei denn, wir erhalten eine adäquate Gegenleistung, und der Aufwand für die Datensammlung wird uns vollumfänglich abgenommen. Dafür braucht es klinische Informationssysteme, die uns gratis oder kostengünstig zur Verfügung gestellt werden und uns nicht nur im Alltag bei der Patientenversorgung unterstützen, sondern auch den geforderten Datentransfer ermög­lichen. Klar, wir können die Patienten über ihr Widerspruchsrecht orientieren und die mündliche und schriftliche Aufklärungsarbeit leisten, eine ärztliche Aufgabe zugegeben, aber zuerst muss die Gegenleistung klar geregelt sein. Also sagen wir entschieden: Nein, so nicht! Wir sind Ärzte, nicht Datensammler und Diener in einem System, das datenmässig klar überfordert sein wird.

Patienten nicht vernachlässigen

Das Ganze erinnert mich an eine meiner ersten Assistenzarztstellen. Dort war die Dokumentation – insbesondere der Austrittsbericht – so enorm wichtig, dass dafür sehr viel Zeit eingesetzt wurde und daneben zwangsläufig die Patienten vernachlässigt wurden. Es hiess dann auch: «Was überlebt, ist der Austrittsbericht.» Wir Ärzte müssen schauen, dass wir vor lauter bürokratischer Vorgaben die Patienten nicht vernachlässigen. Das ist gerade bei onkologischen Patienten verheerend. Wehret den Anfängen! Wir haben schon ohne das Krebsregister genug Amtsschimmel. Fordern sollten wir, dass zumindest die allgemeine ärztliche Bringschuld in eine ausschliesslich digitale Holschuld des nationalen Krebsregisters geändert wird, wobei die notwendigen IT-Lösungen vollumfänglich vom nationalen Krebsregister bewerkstelligt werden.
mschuurmans[at]mac.com
1 Nationales Krebsregister: Kantone warnen vor teuren Datenfriedhöfen. Aargauer Zeitung, 12.7.2017. https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/nationales-krebsregister-kantone-warnen-vor-teuren-­datenfriedhoefen-131517954