Olivier Glardon, Tierarzt und Präsident der Schweizer Tierärztinnen und Tierärzte

«Wir müssen lernen, enger zusammen zu arbeiten»

Horizonte
Édition
2019/46
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.18317
Bull Med Suisses. 2019;100(46):1554-1556

Affiliations
Freier Journalist und Fotograf, Medientrainer, Bern

Publié le 13.11.2019

Draussen im kühlen Herbstnebel liegt das Grosse Moos, drinnen ist es tropisch heiss und feucht. «Welcome to Belize» steht da, aber wir befinden uns in der Nähe von Kerzers. Im Papiliorama gibt es nach wie vor viele Schmetterlinge, ja, Olivier Glardon ist Tierarzt hier, aber mit den Insekten, die diesem Ort den Namen gegeben haben, hat er nichts zu tun. «Ihre Antennen muss ich nicht flicken», sagt er und lacht.

Nasenbär und Stacheltier

Etwa gleich viele Fledermäuse wie Schmetterlinge hat es hier, einen Springtamarin und Nachtaffen. Der ­Nasenbär hat Schmerzen und das Stacheltier einen Hautinfekt. Vor allem wegen ihnen ist Glardon heute gekommen, aber wie immer auch, um Medikamente aus seiner Praxis abzuliefern. Antibiotika hat er ab und zu auch dabei, ja, aber er setzt sie sehr zurückhaltend ein. «Ein Antibiotikum ist immer stärker als ein pflanzliches Heilmittel», sagt Glardon, wenn immer möglich aber behandelt er seine vierbeinigen Patienten mit ­Alternativen zur Schulmedizin. So hilft zurzeit eine Honigmischung dem Stacheltier gegen die Entzündung am Schwanz.
Nichts erinnert an einen klinischen Arbeitsplatz. Im Teich schwimmen Fische und Enten, aus dem satten Grün des «Xopol Forest» leuchten die Farben des Tukans. In der Regel untersucht und behandelt Glardon die Tiere im Gehege, in ihrer gewohnten Umgebung, «ein Transport ist für sie immer ein Stress». Und so ­begibt er sich auch heute zusammen mit der zuständigen Tierpflegerin von hinten, via Diensteingang, in die Behausung seiner Patienten. Nur kurz gibt es eine kleine Aufregung, der Tierarzt hat vorerst vor allem mit den tiefen Ästen zu tun, die seinen Weg behindern.
Die Tierpflegerin lockt den Weissrüssel-Nasenbären mit Futter an, Olivier Glardon kann sich davon überzeugen, dass das verabreichte Schmerzmittel gewirkt hat. Der zweite Nasenbär hat Gewicht verloren, ist ­unsicher auf den Beinen. Glardon will abklären, ob die Bauchspeicheldrüse in Ordnung ist, und ordnet an, den Kot zu untersuchen. «Wie geht es dem Flughund?», fragt er zwischendurch; bei ihm musste eine Fraktur am Finger mit einer Schiene stabilisiert werden.

Medizin für Tiere oder für Menschen?

Dass er Veterinär- und nicht Humanmedizin studieren wollte, war für Olivier Glardon schon als Teenager klar. «Mein Urgrossvater hatte einen Bauernhof. Er und mein Grossvater gaben mir viel mit, was Tiere betrifft.» Dass er nach dem Studium von den Nutz- zu den Kleintieren wechselte, war eher ein Zufall. «Die Lehre und die Arbeit mit Studentinnen und Studenten faszinierten mich.»
Wo sieht der Tierarzt die grössten Unterschiede zur medizinischen Arbeit mit Menschen? «Mit Tieren kann man nicht über verschiedene Therapievarianten sprechen», erklärt er, «dies zum Beispiel unterscheidet uns von den Humanmedizinern. Wir tragen immer die volle Verantwortung, und das ist manchmal eine Last.» Zu dem, was er an seinem Beruf ­besonders schätze, gehöre die praktische Arbeit ­draussen, wie hier in diesem Zoo. «Das ist eine Medizin, die noch etwas Handwerkliches hat, im Denken und im Tun», bilanziert Glardon.
Ist es auf der anderen Seite nicht oft auch eine Luxus-Medizin, die er betreibt? Denken wir an gewisse Pferde, Hunde oder Katzen. Oder an Zootiere. Wie steht es mit der Notwendigkeit, der Dringlichkeit? «Die Problematik ist mir bewusst», antwortet Glardon. «Aber: Ob es einen Zoo wie diesen braucht, ist eine ­andere Frage auf einer anderen Ebene. Wenn es ihn ­jedoch schon gibt, braucht es auch eine Medizin, die diesen Tieren angepasst ist.» Jetzt kommt Glardon auf seine grosse Spe­zialität zu sprechen, die Komplemen­tär­medizin: «Gerade im Zoo ist es angezeigt, mit nicht­konventionellen Methoden zu arbeiten, denn das sind ursprünglich wilde Tiere mit einer anderen Immunität und einer ­anderen Heilungskraft.» Mit Akupunktur oder Phytotherapie beispielsweise arbeitet er regelmässig und erfolgreich, wie er betont. Zen­tral sind für ihn auch Verhaltensaspekte – beim Tier und bei seinen Besitzern. «Verletzungen beim Pferd beispielsweise haben oft mit dem Reiter zu tun, manchmal auch mit dem Hufschmied.» Hier ortet Glardon ­einen weiteren Unterschied zur Humanmedizin: «Ein Mensch ist entweder gesund oder krank, dazwi­schen gibt es – vor allem aus Sicht der Versiche­rungen – nichts. Subjektive Symptome oder stille Dysfunktionen existieren offiziell nicht, das ist in der Tiermedizin anders.»

Zur Person

Dr. med. vet. Olivier Glardon wurde 1953 in Yverdon geboren. Er studierte Vete­rinärmedizin an der Universität Bern. 1988 schrieb er seine Dissertation. 1980–1987 absolvierte er eine Weiterbildung in Kleintiermedizin. Nach Weiterbildungen in Frankreich, China und den USA erwarb er 1982 den Fähigkeitsausweis in Tierakupunktur. 1988 eröffnete er in Yverdon und in Sainte-Croix seine private Praxis, wo er in den Bereichen Kardiologie, Verhaltensmedizin und nichtkonventionelle Medizin nach wie vor tätig ist. 2010–2018 leitete er im Bundesamt für ­Gesundheit BAG den Bereich Akkreditierung und Qualitätssicherung. Seit 2016 ist er Tierarzt des Papilioramas in Kerzers, seit ­Beginn dieses Jahres Präsident der Gesellschaft Schweizer Tierärztinnen und Tierärzte. Zudem ist er als Lehrbeauftragter an den Universitäten Bern und Zürich tätig. Olivier Glardon ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Er lebt in Essertines oberhalb von Yverdon.

Das grosse gemeinsame Problem

Was Tierärzte und Humanmediziner verbindet, ist die grosse Sorge um die Antibiotika-Resistenzen und die Notwendigkeit, dagegen anzukämpfen. «Im Medizinstudium sind wir geschult worden, dass Medikamente der wichtigste Teil einer Behandlung sind. Alles haben wir auf dieses Potential abgestützt. Aus dieser Denkweise rauszukommen, braucht Zeit.» Lange sei die Diskussion dann wie ein Schwarzpeterspiel gewesen, Landwirtschaft, Human- und Veterinärmedizin hätten sich die Schuld am grossen Problem gegenseitig zuzuschieben versucht. Und zu lange sei nur vom Antibiotika-Einsatz bei den Tieren die Rede gewesen, «das hat uns Tierärzte geärgert. Noch heute sind wir der Meinung, dass die Humanmediziner mehr machen müssen gegen die Antibiotika-Resistenzen.»
Das Bewusstsein müsse noch stärker geschärft werden, Richtlinien müssten erarbeitet und Entwicklungen besser beobachtet werden, zum Beispiel bei einer ­Blaseninfektion. Eine Datenbank, die den Verbrauch von Antibiotika dokumentiere, brauche es im Übrigen nicht nur in der Veterinärmedizin. Aber eben: Ein Hin und Her und ein Gegeneinander bringe nichts, betont Glardon. «Wir müssen lernen, enger zusammenzu­arbeiten.» Bloss: Gerade im Bereich der Nutztiere würden sich die Interessen zum Teil halt widersprechen. «Im Zug der Massentierhaltung wurden die Interessen der Tiere jenen der Wirtschaft angepasst. Heute steht das Tierwohl zum Glück wieder eher im Vordergrund.»
Dazu komme, dass der Verkauf von Medikamenten ­gerade bei Tierärzten einen Teil des Einkommens ausgemacht habe, «Besuche und Beratung sind nicht kostendeckend. Und Geld von Versicherungen erhalten wir keines.» Wichtig sei deshalb, dass sich Landwirte dazu verpflichten, die Tiere regelmässig kontrollieren zu lassen und den Tierarzt nicht erst zu rufen, wenn ein Tier krank ist.

Tiermedizin und Euthanasie

Wenn die Krankheit oder Verletzung zu schlimm ist, kann ein Tiermediziner ein Tier auch mal einschläfern. «Euthanasie ist für uns – anders als bei den Human­medizinern – etwas Alltägliches», sagt Olivier Glardon. «Die Tiere haben diesbezüglich gegenüber uns Menschen ein Privileg.»
Heisst gleichzeitig aber auch: Veterinärmediziner ­haben einen vergleichsweise einfachen Zugang zu den entsprechenden Medikamenten. Suizid-Zahlen aus dieser Berufsgattung gibt es offenbar nicht. Aber: «Tier- und Humanmediziner verbindet auch ein starkes Engagement für den Beruf, und dies kann zu einer sehr grossen Belastung führen.»
Insbesondere in den Einzelpraxen seien der Druck und damit das Burnout-Risiko enorm hoch, sagt Olivier Glardon. «Weniger als 60 Prozent zu arbeiten ist hier undenkbar.» Aber das Berufsbild wandle sich rasant. «Die freie Einzelpraxis ist ein Auslaufmodell.» Zu­nehmend gebe es Gruppenpraxen, die untereinander vernetzt seien. Und immer mehr gelte es, unterneh­merisch zu denken und Nischen zu suchen. «Eine ­Tierärztin, die auf Reptilien spezialisiert ist, hat beispielsweise sicher eine Zukunft.»
Olivier Glardon selber ist ein vielbeschäftigter Mann. Er ist an verschiedenen Orten als Tierarzt tätig, er lehrt an den Universitäten in Zürich und Bern, und er ist seit Beginn dieses Jahres Präsident seiner Fachgesellschaft. Trotzdem wirkt er ruhig, gelassen und zufrieden. Wie schafft er das? «Das Aufladen von Energie kann man trainieren», schmunzelt er. Glardon macht es auch im Alltag ganz bewusst: Indem er alte Möbel sammelt, ­restauriert und an einer Brocante wieder verkauft. Oder in seiner Praxis, bei einer Katze, die schnurrt. Oder hier im Papiliorama beim alten Tukan, der gelassen auf einem Ast sitzt und ganz einfach den Moment zu geniessen scheint.
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