Interview mit Annalisa Berzigotti, Assoziierte Professorin für Hepatologie, Medizinische Fakultät der Universität Bern

Frauen sollten mehr Selbstvertrauen haben

Tribüne
Édition
2019/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.18108
Bull Med Suisses. 2019;100(38):1278-1280

Affiliations
Chefredaktor SÄZ

Publié le 18.09.2019

Obwohl die Mehrheit der Medizinstudierenden Frauen sind, bleibt der Anteil von Professorinnen in der Medizin auf tiefem Niveau. Dass eine akademische Karriere als Frau möglich ist, zeigt das Beispiel von Annalisa Berzigotti. Die Professorin ­arbeitet und forscht am Berner Inselspital. Im Jahr 2018 wurde sie als erste ­Trägerin mit dem Stern-Gattiker-Preis ausgezeichnet.
Wie kam es zu Ihrer Nomination für den Stern-­Gattiker-Preis?
Mein Chef und meine Arbeitskolleginnen und -kollegen hatten diese Idee. Mein Vorgesetzter erzählte mir, dass er meine Kolleginnen und Kollegen angefragt habe, im Bewerbungsdossier etwas über mich zu schreiben. Ich selber habe diese Texte jedoch nie gelesen. Aber sie müssen der Jury Eindruck gemacht haben (lacht).
Was hat die Verleihung des Preises bei Ihnen persönlich ausgelöst?
Es war eine sehr grosse Überraschung. Ich hätte dies niemals erwartet. Was mich am meisten ehrte, war ­anlässlich der Preisverleihung zu erfahren, dass ich für mein Umfeld als authentisches und erreichbares Vorbild gelte. Aber alleine schon die Tatsache, dass ein so wichtiger Preis an eine Ausländerin geht, und das erst noch bei der ersten Verleihung, hat mich tief berührt. Dank diesem Preis fühle ich mich nun noch stärker mit der Schweiz verbunden. So etwas wäre in meinem Heimatland Italien undenkbar. Für mich ist dies ein Zeichen, dass in der Schweiz das meritokratische System funktioniert.
Annalisa Berzigotti forscht im Bereich der Hepatologie.

Zur Person

Name: Annalisa Berzigotti
Alter: 46
Stark verkürzter Lebenslauf:
– Medizinstudium, Universität Bologna
– Facharzttitel Innere Medizin, Universität Bologna
– PhD im Bereich Ultraschall in der Medizin, Universität Bologna
– Master in Research, Bereich Lebererkrankungen, ­Universität Barcelona (UAB)
– PhD im Bereich der Hepatologie, Universität Barcelona (UAB)
– Assoziierte Professur für Hepatologie, Medizinische Fakultät, ­Universität Bern
– Leitende Ärztin Hepatologie, Bauchzentrum, Klinik für Viszerale Chirurgie und Medizin, Inselspital Bern
Aber die Schweiz ist nicht gerade als Vorreiterin in Sachen Gleichberechtigung bekannt …
Tatsächlich brauchen gesellschaftliche Prozesse in der Schweiz wohl etwas länger. Die Schweiz ist jedoch ein effizientes Land. Wenn man sich hier einmal für ­einen Wandel entschieden hat, zieht man es, anders als in vielen europäischen Ländern, auch durch. Ich bin überzeugt, die Schweiz wird in Sachen Gleichberechtigung schnell aufholen und viele Länder sogar über­holen. Einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren einer Gesellschaft ist die Kapazität, sich zu diversifizieren. Die Diversifikation darf sich jedoch nicht auf Geschlechterfragen beschränken. Es braucht auch eine gute Durchmischung von Nationalitäten und Ideen. Die Schweiz hat mit einem Ausländeranteil von rund 20% die besten Voraussetzungen dafür.
Sie haben eine eindrückliche Karriere hinter sich und dies trotz eigener Familie. Verraten Sie uns Ihr Erfolgsrezept?
Ehrlichkeit und Prinzipientreue. Man muss für sich Prinzipien definieren und diesen treu bleiben. Ich wünschte mir als junge Ärztin, im Bereich der Infektiologie zu arbeiten. Als ich meine erste Berufserfahrung in dieser Fachrichtung sammelte, musste ich Dinge erleben, die nicht mit meinen Prinzipien zu vereinbaren waren. Also entschloss ich mich, den Bereich zu wechseln. In der Inneren Medizin habe ich das zu mir und damit zu meinen Grundsätzen passende Umfeld gefunden. Es gibt immer die Möglichkeit, eine Situation zu ändern, auch wenn es bedeutet, eine Position auf­zugeben. Dies ist auch was ich meinen jüngeren Mit­arbeitenden auf den Weg geben will: Man muss für das Erreichen der persönlichen Ziele kämpfen.
Wer war Ihr wichtigster Mentor?
Da gab es einige. Mein grösstes Vorbild waren meine Eltern. Mein Vater war Arzt, meine Mutter Ökonomin. Während meiner beruflichen Laufbahn hatte ich verschiedene gute Mentoren. Aber auch die Mentor-­Mentee-Beziehung ist eine bilaterale Beziehung, die viel mit Prinzipien und Ehrlichkeit zu tun hat.
Die Ärztin und Forscherin Berzigotti (3. von links) mit ihrem Forscherteam.
Das Postdoktorat bedeutet für viele Frauen End­station ihrer akademischen Karriere, weil sie sich zu diesem Zeitpunkt zwischen Karriere und Familie ­entscheiden müssen. Wie kann man diese Situation verbessern?
Tatsächlich ist die Phase nach der Doktorarbeit ein sensibler Moment im Leben einer jungen Ärztin. Es ist ein Zeitpunkt, in dem man beruflich sehr produktiv sein sollte, um sich die Aufstiegschancen nicht zu verbauen. Männer verspüren diesen Druck kaum, bleiben beruflich voll eingespannt und ebnen sich so den Weg zu einer Karriere. Diese Ungleichheit führt bei Frauen häufig zu Karrierelücken. Um dies zu verhindern, ist die Politik gefordert. Es braucht Rahmenbedingungen, dank denen Frauen in spezifischen Momenten ihres Lebens vonseiten der öffentlichen Hand unterstützt werden. Es überrascht mich beispielsweise, wie teuer Kindertagesstätten hierzulande sind. Eine ökonomische Unterstützung in diesem Lebens­abschnitt kann für junge Frauen entscheidend sein.
Wie gehen Sie mit jungen Mitarbeiterinnen um, die sich zwischen Karriere und Familie entscheiden müssen?
Ich höre mir ihre Probleme an und wir diskutieren im Team über Lösungsmöglichkeiten. Frauen müssen ­verstehen, dass sie trotz Mutterschaft die Möglichkeit haben, Karriere zu machen. Ich rate meinen Mitarbeiterinnen immer, eine Frau in der medizinischen Akade­mie zu kontaktieren, um von ihr persönlich zu erfahren, mit welchen Problemen sie konfrontiert wurde und wie sie diese löste. Deshalb ist es wichtig, dass wir auch in der medizinischen Akademie ge­nügend Frauen als Vorbilder für junge Kolleginnen und Kollegen haben.
In der Schweiz gibt es in der Medizin nur wenige Frauen, die eine akademische Karriere erfolgreich verfolgt haben. Ein Zeichen, dass die Medizin ein besonders hartes Pflaster ist?
In der Medizin ist die klinische Arbeit sehr zeitintensiv. Deshalb ist in diesem Bereich eine akademische Karriere im Vergleich zu anderen Forschungsrichtungen sicher anspruchsvoller. Nichts ist unmöglich. Sie müssen es aber von ganzem Herzen wollen. In unserer Klinik haben wir einige Chirurginnen und Forscherinnen. Für viele ältere Ärztinnen und Ärzte ist es schwer nachvollziehbar, dass sich eine Frau ein solches Leben wünscht. Warum nicht? Eine italienische Kollegin wollte unbedingt eine chirurgische Karriere einschlagen, wurde aber von ihrem Vorgesetzten daran gehindert. Sie blieb ihren Prinzipien treu, ging ins Ausland und arbeitet heute erfolgreich als Chirurgin.
Das Bundesprogramm für Chancengleichheit von Mann und Frau peilte einen Anteil von 25% Professorinnen und 40% Assistenzprofessorinnen an Schweizer Universitäten an. Die meisten Institutionen sind noch weit davon entfernt. ­Weshalb?
Es sind einerseits die bereits erwähnten Gründe, welche Frauen zu einem jähen Karriereabbruch bewegen. Also braucht es in diesem Bereich Chancengleichheit. Andererseits gibt es auch eine kulturelle Komponente. Frauen sind weniger aggressiv, wenn es um ihre Kar­riereplanung geht. Frauen sollten mehr Selbstvertrauen haben. Die Gesellschaft treibt die Gleichberechtigung voran. Aber schlussendlich müssen sich Frauen auch trauen, aus alten Rollenmodellen auszubrechen.

Stern-Gattiker-Preis

Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) lancierte 2018 den mit 15 000 Franken dotierten Stern-Gattiker-Preis. Damit sollen Frauen in der akademischen Medizin gewürdigt und der weibliche Nachwuchs motiviert werden, eine akademische Karriere anzustreben. Der Name des Preises geht auf zwei Medizinerinnen zurück: Lina Stern, die erste Professorin an der Universität Genf, und Ruth Gattiker, eine der ersten Professorinnen an der Medizinischen Fakultät Zürich.
Die nächste Ausschreibung erfolgt Anfang 2020.
Wie kann die Gleichberechtigung in der Akademie nachhaltig verankert werden?
Es gibt einige interessante Ansätze. So muss in Grossbritannien eine Universität für jede neue Professur auch eine Stelle einer Junior Professorin schaffen. Interessanterweise ist die Produktivität dieser Frauen vorbildlich. Sie sind also nicht bloss Quotenfrauen. Eine andere Möglichkeit ist, dass bei einer Stellenbesetzung die Lebensläufe der engsten Kandidatinnen und Kandidaten anonymisiert dem Auswahlgremium vorgelegt werden. Damit lassen sich unbewusste Vorurteile beseitigen. Eine kleine Massnahme mit grosser Wirkung.
Der Stern-Gattiker-Preis ist mit 15 000 Franken dotiert. Zudem durften Sie als Preisträgerin jemanden nennen, der Ihre Karriere in substantieller Weise unterstützt hat. Für diese Person bzw. Institution wird ein Zusatzpreis von 5000 Franken vergeben. Wie haben Sie die Preisgelder eingesetzt?
Mein Preisgeld habe ich vollumfänglich in meine Forschungsprojekte gesteckt. Den Zusatzpreis erhielt mein Mann bzw. seine Forschungsgruppe. Denn mein Mann stand die ganze Zeit unterstützend hinter mir und dafür bin ich ihm sehr dankbar.
matthias.scholer[at]emh.ch