Man braucht weder ein Parteibuch noch Vitamin B

In der Schweiz zählen Engagement, Leistung und Ausbildungsstand

Tribüne
Édition
2019/34
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.18035
Bull Med Suisses. 2019;100(34):1131-1132

Affiliations
Managing Editor, Schweizerische Ärztezeitung

Publié le 20.08.2019

Rund ein Drittel der Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz kommt aus dem Ausland. Weshalb haben sie sich für ein Leben hierzulande entschieden? Welches sind kulturelle Stolpersteine, die es zu umschiffen gilt? Und was halten sie von der Schweizer Gesundheitspolitik? Diesen und weiteren Fragen gehen wir in der Serie «Grüezi Schweiz» auf den Grund. In dieser Ausgabe berichtet Dr. med. Melitta Breznik (58) aus Österreich, wie sie über viele Zwischenstationen nach Scuol in Graubünden kam.

Der Weg in die Schweiz

Eine Ausbildungsstelle zum Facharzt für Psychiatrie in Österreich zu finden, war für Melitta Breznik Anfang der 90er Jahre nicht einfach: Es gab nur wenige Plätze, ausserdem hätte sie zu Beginn unentgeltlich arbeiten müssen. Und schliesslich gehörte die Psychotherapie – die der jungen Ärztin sehr am Herzen lag – noch nicht verpflichtend zur Facharztausbildung in Österreich. So kam es, dass sie ihre Facharztausbildung in Solothurn und am Universitätsspital Zürich absolvierte.
Auf der Patiententerrasse der ­«Clinica ­Curatica»

Schweiz, Österreich, Deutschland – und zurück

Eine erste Oberarztstelle führte sie ins bündnerische Cazis, dann zog es sie wieder an den Zürichsee nach Meilen. Zwischendurch, so sagt sie, habe sie einen «Fluchtversuch nach Österreich unternommen». Doch dieser scheiterte kläglich. «Man hat ein Parteibuch gebraucht oder das in Österreich übliche ‘Vitamin B’, um eine Oberarztstelle in einem Spital zu bekommen», sagt sie. «Das habe ich als unmöglich empfunden.» Hier in der Schweiz werde man ­erfreulicherweise nach seinem Engagement, seiner Leistung und seinem Aus­bildungsstand beurteilt – und nicht nach der Parteizugehörigkeit.
2004 eröffnet sie in Chur eine Praxis für Psychiatrie und Psychotherapie. Doch das Einzelkämpfer-Dasein war nicht ihre Sache: «Ich glaube, dass man in einem eingespielten und gut ausgebildeten Team mit unterschiedlichen therapeutischen Ansätzen den Patienten besser helfen kann. Ich bin ein leidenschaftlicher Teamplayer.» Nach fünf Jahren gab Melitta Breznik die Selbständigkeit wieder auf und übernahm stattdessen die Leitung einer Reha­klinik in Deutschland. Dafür pendelte sie täglich von Basel nach Badenweiler. Weil das Klinikumfeld in finanzieller HInsicht schwierig war, zog es sie bald auch beruflich wieder zurück in die Schweiz. Genauer gesagt nach Rheinfelden, wo sie eine Stelle als Leitende Ärztin in der Psychosomatik annahm. Dort engagierte sie sich unter anderem für die Vielfalt in der Behandlung und begann mit der Einführung eines ­klinikübergreifenden komplementärmedizinischen Konzepts.
Seit drei Jahren arbeitet Melitta Breznik als Leitende Ärztin in Scuol, wo sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Dr. Hannes Graf eine Abteilung für integrative Rehabilitation für Psychosomatik und Psychoonkologie ­aufbaut. Schulmedizin und Komplementärmedizin sollen bei diesem therapeutischen Konzept eng miteinander verwoben werden. «Das ist meine Traumstelle», schwärmt sie. «Ausserdem ist die Lebensqualität im Unterengadin sehr hoch. Ich kann mit dem eBike in die Klinik fahren, im Winter in den Bergen Ski fahren und Schneeschuh laufen.» Lediglich ein grösserer See würde ihr fehlen.

Literatur – mehr als nur ein Hobby

Angesprochen auf ihre vielen Job- und Ortswechsel, sagt sie: «Ich bin ein unruhiger Geist, möchte immer etwas entwickeln, etwas aufbauen, habe ständig neue Ideen. Ich arbeite viel und gern.» Und das nicht nur als Ärztin, sondern auch als Schriftstellerin. Denn sie beschäftigt sich seit vielen Jahren literarisch mit Kriegstraumatisierungen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Unter anderem hat sie sich mit der ­Geschichte ihrer Grossmutter auseinander­gesetzt, die im Dritten Reich als Psychiatrie­patientin euthana­siert wurde. «Das Schicksal meiner Grossmutter war unbewusst vielleicht auch der Grund für meine Berufswahl», sagt ­Melitta Breznik, die mittlerweile fünf Prosabücher veröffentlicht hat. Zuletzt wurde ihr der mit 10 000 Franken dotierte Bündner Literaturpreis zuerkannt.
Melitta Breznik gemeinsam mit ihrem Kollegen Dr. ­Hannes Graf, ­Leitender Arzt «Clinica Curativa»
Auch in ihren Therapiesitzungen hält das Schreiben Einzug. So ermuntert sie ihre Patienten dazu, auf­zuschreiben, was sie erleben und fühlen. Zudem hat sie vor einigen Jahren die Vortragsreihe «Leben & Schreiben» gemeinsam mit der Klinik Schützen und dem ­Literaturhaus Basel ins Leben gerufen: An diesen Abenden werden Autoren vorgestellt, deren Bücher lebendige Podiumsdiskussionen ermöglichen. Themen sind körperliche oder psychische Erkrankungen sowie Gesellschaftsphänomene, die diese Erkrankungen beeinflussen.

Österreich vs. Schweiz – was ist anders?

«Ich schätze insbesondere das demokratische System der Schweiz», sagt Melitta Breznik. «Und ich bin froh, dass ich als Doppelbürgerin wählen kann.» Auf der anderen Seite vermisse sie das Wiener Kaffeehaus und ganz besonders den «Schmäh», also den leichtfüssigen Humor im Alltag.

Kulturelle Stolperfallen

Anfangs hat Melitta Breznik Mühe gehabt, die vielen verschiedenen Dialekte zu verstehen. «Ausserdem klingt es furchtbar, wenn ich versuche, Schweizerdeutsch zu sprechen», sagt sie. Doch selbst, wenn sie Hochdeutsch spricht, kommt es manchmal zu Missverständnissen. Zum Beispiel kann sie offenbar das Wort «Müsli», also den Speisebrei, nicht richtig aussprechen. «Meine Kollegen verstehen dann immer s Müsli, also die Maus.» Das habe schon mehrfach für grosses Gelächter gesorgt. Ausserdem hat sie schnell gemerkt, dass es bei den Schweizern gar nicht gut ankommt, wenn man jemanden direkt kritisiert. Und weil sie andere Kollegen aus dem Ausland vor diesem und anderen Fehlern bewahren wollte, hat sie kurzerhand ein Merkblatt mit den wichtigsten Verhaltens­regeln und Stolpersteinen zusammengestellt und es ­jedem Neuling beim Stellenantritt in die Hand gedrückt.

Zurück nach Österreich – eine Option?

«Nein», sagt sie. «Es gibt für mich keinen Grund, hier wegzugehen.» Sie sei hier sehr herzlich aufgenommen worden und habe immer das Gefühl gehabt, willkommen zu sein. Höchstens die deutlich angenehmeren Arbeitszeiten in Österreich seien vor Jahren ein Anlass gewesen, über einen Wechsel nachzudenken. «Ich gehe meistens um 19 oder 20 Uhr nach Hause. Aber rufen Sie doch mal um 16 Uhr nachmittags in einem Spital in ­Österreich an und versuchen Sie, einen Oberarzt ans Telefon zu bekommen. Das wird schwierig (lacht).»

Wünsche für die Zukunft

«Ich würde mir wünschen, dass sich die Schweiz nicht so sehr an die Entwicklung des Gesundheitswesens in Deutschland anpasst. In meinen Augen werden im Eiltempo die gleichen Fehler gemacht», sagt sie. «Und ich hoffe, dass die politischen Verhältnisse insgesamt stabil bleiben.» Und für sich ganz persönlich wünscht sie sich, dass das Klinikprojekt in Scuol gelingt und dass sie gesund bleibt, damit sie weiterhin die wunderschöne Gegend rund um ihre Wahlheimat erkunden und literarisch tätig sein kann.
Unterwegs im Ospidal Scuol
Für unsere Serie «Grüezi Schweiz» suchen wir ausländische Ärztinnen und Ärzte, die uns einen Einblick in ihr Leben und ihren Berufsalltag gewähren. Wir freuen uns über eine Kontaktaufnahme: tkuehnle[at]emh.ch