Ausstellung «Ferox, the Forgotten Archives» in Winterthur

Deepfakes

Horizonte
Édition
2019/2728
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17951
Bull Med Suisses. 2019;100(2728):956

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publié le 02.07.2019

Ein wissenschaftlicher Archivbestand, sorgfältig dokumentiert. Die Raumfahrtagentur IEMS, International Exploration for the Mars Surroundings, beendete ihre Mission 2010. Die Entdeckung und Ursprungs­geschichte eines in den Schweizer Alpen entdeckten Meteoriten ist durch Zeitzeugen belegt, durch Briefe, Amateurfotos und Zeitungsausschnitte. Elektronenmikroskopische Strukturanalysen führten zum Herkunftsort Ferox, zu einem dritten Marsmond, den mehrere Roverlandungen erforscht haben. Eine begehbare Rauminstallation ergänzt die Bilder der ­zerklüfteten, von Geröllhalden durchzogenen Landschaft. Eine open source website und ein umfangreicher Forschungsbericht in Buchform ergänzen die zahlreichen Belege der Ausstellung. IEMS? Nie gehört, bei so vielen Kürzeln kann das ja vorkommen. Ferox, ein dritter Marsmond? Dem Laien waren nur zwei bekannt. Klingt die ganze Geschichte nicht doch etwas unglaubwürdig, obwohl sie gut belegt ist und die Fülle des reichhaltigen Materials die aufkeimenden Zweifel zu widerlegen scheint? Am Ende des Rundgangs der erlösende Kommentar: Alles nur Camouflage, Mimikry, Fake, der Künstler Nicolas Polli, ein Schweizer Fotograf und Grafikdesigner, hat sich das alles nur ausgedacht. Die meisten Fotos, Diagramme und Laborberichte sind in seinem Studio in Lausanne entstanden. Zwei Geologen hätten ihm dabei geholfen, für sein Experiment eine möglichst glaubhafte Sprache zu finden. Nicolas Polli möchte mit seiner Arbeit den Betrachter zu einer distanzierten, vertieften Auseinandersetzung provozieren. Es gibt, vor allem im Nachhinein, absichtsvolle Ungereimtheiten zu entdecken. Unüblich geschichtete Felsformationen, zeitliche Korrelationen, die nicht stimmen, grossformatige ­Fotos von einem technischen Gerät, das fremd anmutet, ein Satellit, bestückt mit Fernsehschüsseln, der einen Landeplatz erkunden soll. Das einsetzende Gefühls­chaos ist gewollt. Einerseits hat man doch immer etwas geahnt, andererseits ist man darauf hereingefallen. Suggestive Bilder, ein perfekter Fachjargon, das eigene Halbwissen, eine eingeübte Gutgläubigkeit, die unkritisch ein Narrativ übernimmt, das alles sind wir gewohnt. Der Konsum von Dokufiktionen gehört zum normalen Alltag. Ohne Vorschussvertrauen geht gar nichts. Als Mediziner überfliegen wir im Eiltempo die Reportagen aus der Welt der Wissenschaften, Texte, Bilder, Statistiken und Wissensstoff, bedeutsam für die Praxis oder auch nicht. Quellenangaben von ausserhalb des eigenen Fachgebietes interessieren uns kaum. Berichte aus entlegenen Forschungsbereichen wie Astronomie oder Reportagen aus Krisengebieten sind für uns nicht überprüfbar. Unser Erinnerungsarchiv hilft lückenhaft mit Vergleichen. Wir nehmen an, dass Experten die Nachrichten für uns bewerten, dass Widersprüche und Lügen durch eine offene Berichterstattung letztlich ans Licht kommen.
Deepfake ist seit einigen Jahren ein gebräuchlicher Ausdruck für gefälschte Medien. Seit Anfang Jahr gibt es eine FakeApp, die Gesichter in Videos austauscht. TensorFlow von Google und das Programm Deep­Dream belästigen Prominente mit gefälschten Sex­videos. Die Methoden werden immer perfekter und einfacher anzuwenden. Wir sind bilderverseucht und bildergläubig, als visuelle Wesen können wir nicht ­anders. Die Fotografie macht Dinge sichtbar, die wir niemals sehen würden: einen Krater auf Ferox, Strukturen im Nanobereich, fiktionale Abbilder fantastischer Welten. Bilder konsumieren die Realität. Neu ist das nicht, doch die totale Manipulation überfordert uns. Aus der zunehmenden Blindheit kommen die uferlose Information, die unbegrenzte Unterhaltung und die lückenlose Überwachung.