Stellenwert der Ernährungsmedizin im Spitalbereich

«Lass die Nahrung Deine Medizin sein und Medizin Deine Nahrung»

Tribüne
Édition
2019/26
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17884
Bull Med Suisses. 2019;100(26):901-902

Affiliations
a Prof. Dr. med., Innere Medizin, Kantonsspital Aarau; b Prof. Dr. med., Intensivmedizin, Institut für Anästhesiologie und Intensivmedizin,
Klinik Hirslanden

Publié le 25.06.2019

Die Mangelernährung ist ein starker und unabhängiger Risikofaktor für das Auftreten von Komplikationen und erhöhter Mortalität bei hospitalisierten Patienten, und dies unabhängig davon, ob ein Patient auf der Inneren Medizin, der Geriatrie, der Chirurgie oder der Intensivmedizin betreut wird [1]. Bis zu 30% der älteren und polymorbiden Patienten weisen bei Spitaleintritt ein Mangelernährungsrisiko auf [2]. Die Mangelernährung ist somit ein durchaus bedeutender krankheitsrelevanter Faktor mit hoher gesundheitsökonomischer und gesundheitspolitischer Relevanz.
Es erstaunt, wie wenig in das Thema Mangelernährung investiert wird – sowohl von Seiten der Ärzteschaft und der Pflegenden, der Spitalleitungen, der Gesundheitspolitik als auch der Pharmaindustrie [3]. Das fehlende Bewusstsein (awareness) für den Risikofaktor Mangel­ernährung hat vielfältige Gründe. Diese zu erkennen und zu beheben ist ein erster wichtiger Schritt zur ­Lösung des Problems.
Erstens ist das Wissen und das Interesse vieler Ärzte und Pflegenden im Spital in Hinblick auf das Thema klinische Ernährung nicht ausreichend. Zudem ist die Ernährungsberatung als Fachkompetenz in diesem Bereich nicht in allen Spitälern gleich stark positioniert und fehlt in anderen Institutionen, wie Altersheimen, gänzlich. Die klinische Ernährung hat, historisch ­gesehen, einen zu geringen Stellenwert im Medizinstudium, so dass vielen jungen Ärztinnen und Ärzten das nötige Basiswissen fehlt. Problematisch ist, dass die klinische Ernährung keinem Fachgebiet klar zu­geordnet ist, und es gibt bisher keinen Schwerpunkt des SIWF für klinische Ernährung. Die Gesellschaft für klinische Ernährung der Schweiz (GESKES) bietet zwar intensive Weiterbildungen zum Thema an – diese werden aber erfahrungsgemäss wenig genutzt, ins­besondere von Seiten der Ärzteschaft und der Pflegenden. Auch konzentrieren sich die einzelnen medizinischen Fachrichtungen vor allem auf die Therapie der Grunderkrankung (des ­jeweiligen Organs), und die Ernährung als Begleit­problem wird oft wenig berücksichtigt. Im Spital geht durch den Trend, die Ernährung über einen eigenen «Hotellerie»-Service abzuwickeln, häufig auch wichtige Information über die effektive Nahrungsaufnahme eines Patienten verloren, was zur Verkennung der Problematik zusätzlich beiträgt.
Zweitens werden durch die zeitliche Differenz zwischen Intervention und Resultat die Komplikationen einer Mangelernährung in ihrer vollen Tragweite ­häufig erst nach Spitalaustritt sichtbar, womit während des Spitalaufenthaltes die Dringlichkeit dieser Pro­blematik verkannt wird. Die Integration des Mangel­ernährungsscreenings in die elektronische Krankengeschichte und eine proaktive Integration der Ernährungsberatung/-therapie bei vorhandenem Risiko bieten sich hier als eine zukunftsweisende Lösung an. Zudem hat die Aufnahme der Mangelernährung ins DRG-Codierungssystem zwar gewisse Anreize für deren Erfassung geschaffen, jedoch werden die effektiven Kosten einer adäquaten Ernährungstherapie kaum in vollem Umfang abgedeckt. Es besteht darüber ­hinaus die Gefahr, dass bei der spitalinternen Verteilung die anfallenden Erlöse der fallführenden medizinischen Disziplin zugehen, die anfallenden Kosten ­jedoch der Ernährungsberatung zugeschlagen werden. Die während der Hospitalisation nicht sichtbaren Konsequenzen einerseits und das Risiko einer ungenügenden Kostendeckung andererseits bergen die Gefahr, die Ernährungsberatung in den Fokus allfälliger Sparbemühungen zu rücken.
Drittens ist die Evidenz zur Wirksamkeit von Ernährungsinterventionen trotz diesbezüglicher intensiver Bemühungen leider noch immer unzureichend. Internationale Richtlinien sprechen sich zwar eindeutig für ein Screening und entsprechende gezielte Interventionen aus; mangels harter Evidenz sind viele dieser Empfehlungen aber als «schwach» zu bewerten. Eine nur mässig vorhandene «hochwertige» Evidenz ist unter anderem sicher auch dem Umstand geschuldet, dass die vergleichsweise eher tiefen Gewinnmargen auf ­Ernährungsprodukten und ein schwierig umzusetzender Patentschutz die Finanzierung der zumeist aufwendigen Studien für einen einzelnen Hersteller ­unattraktiv machen. Auch wählen – im Unterschied zu Medikamenten – Ernährungsberatung, Pflege und Ärzte Ernährungsprodukte eher aufgrund von Soft­faktoren wie Geschmack, Kalorien- und Proteingehalt aus und nicht nach der Evidenzlage eines einzelnen Produktes. Somit ist die Durchführung einer (oftmals sehr teuren) klinischen Studie zu einem einzelnen ­Produkt für die Industrie nicht direkt lohnenswert. Zur dringend notwendigen Verbesserung der Evidenzlage ist einerseits eine vermehrt Industrie-unab­hängige Forschung zu fordern. Andererseits wäre es wünschenswert, dass sich Hersteller von Ernährungsprodukten zu Studien über anstehende grosse (und nicht unbedingt produktbezogene) Ernährungsfragen zusammenfinden würden. Zudem sollte die Wahl der ­eingesetzten Ernährungsprodukte primär gemäss ­evidenzbasierten Kriterien erfolgen, ähnlich wie für andere Medikamente auch.

EFFORT-Studie zeigt Nutzen einer frühen Ernährungstherapie

Die erst kürzlich veröffentlichte, vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützte und an acht schweizerischen Spitälern durchgeführte EFFORT-Studie («Effect of Early Nutritional Therapy on Frailty, Functional Outcomes and Recovery of Undernourished Medical In­patients Trial») konnte anhand von insgesamt 2028 Patienten den Nutzen einer frühen Ernährungstherapie aufzeigen [4, 5]. In dieser randomisierten und kontrollierten Studie wurden die Patienten der Interventionsgruppe während des Spitalaufenthaltes mittels eines Ernährungsalgorithmus [6] erfasst und hinsichtlich ­ihres berechneten Kalorien- und Eiweissbedarfs mittels individualisierter Ernährungsstrategien bedarfsgerecht ernährt. Durch die Ernährungsintervention konnten das Risiko schwerer Komplikationen (22,9% vs. 26,9%; p = 0,023) und die Tag-30-Letalität reduziert werden (7,2% vs. 9,9%, p = 0,011); zudem führte die Ernährungstherapie zu einer signifikanten Verbesserung der Funktionalität und Lebensqualität.
Gerade in einer Zeit, in der wir dank neuen (und teilweise sehr teuren!) Medikamenten Überleben und Lebensqualität unserer Patienten erfolgreich verbessern können, sollten auch scheinbar banale Dinge – wie eine bedarfsgerechte und gezielte Ernährung – wieder vermehrt Beachtung finden. Es gilt, das Bewusstsein für die Mangelernährung und deren negative Folgen in das klinische Bewusstsein (zurück) zu bringen. Dies beinhaltet die verstärkte Berücksichtigung der Thematik in der Aus-, Weiter- und Fortbildung der involvierten Fachkräfte (Ärzteschaft, Pflegende, Therapeuten), die Schaffung und Förderung weiterer Evidenz in Ernährungsfragen und nicht zuletzt auch eine kosten­deckende Vergütung der Ernährungstherapie.
Die Diskussionsgrundlage für diesen Artikel ist im Rahmen eines von der Firma Abbott gesponserten Advisory Boards entstanden, und wir danken den Teilnehmern, die zur Diskussion beigetragen haben: Manuela Deiss, Maja Dorfschmid, Patricia Fodor, Philipp Gerber, Marina Martin, Daniela Stehrenberger, Peter Steiger, Anna-Barbara Sterchi und Katharina Timper. Die Meinungen im Artikel basieren auf denen der Autoren und sind unabhängig von der Firma Abbott.
Prof. Dr. med. Philipp Schuetz, MPH
Medizinische Universitätsklinik, Kantonsspital Aarau
Tellstrasse H7
CH-5001 Aarau
schuetzph[at]gmail.com
1 Felder S, Lechtenboehmer C, Bally M, et al. Association of nutritional risk and adverse medical outcomes across different medical inpatient populations. Nutrition. 2015;31(11–12):1385–93.
2 Imoberdorf R, Meier R, Krebs P, et al. Prevalence of undernutrition on admission to Swiss hospitals. Clin Nutr. 2010;29(1):38–41.
3 Schuetz P. Food for thought: why does the medical community struggle with research about nutritional therapy in the acute care setting? BMC Med. 2017;15(1):38.
4 Schuetz P, Fehr R, Baechli V, et al. Design and rationale of the effect of early nutritional therapy on frailty, functional outcomes and recovery of malnourished medical inpatients trial (EFFORT): a pragmatic, multicenter, randomized-controlled trial. International Journal of Clinical Trials. 2018;5(3):77.
5 Schuetz P, Fehr R, Baechli V, et al. Individualized nutritional support in medical inpatients at nutritional risk: a randomized clinical trial. The Lancet (in press). 2019.
6 Gomes F, Schuetz P, Bounoure L, et al. ESPEN guidelines on nutritional support for polymorbid internal medicine patients. Clin Nutr. 2018;37(1):336–53.