Nachlese

Horizonte
Édition
2019/19
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17818
Bull Med Suisses. 2019;100(19):668

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publié le 07.05.2019

Nach altem Brauch gehörten die übrig gebliebenen Trauben den Armen und Fremden. Was die Ausstellung im Gelben Haus in Flims Nachlese nennt, hat allenfalls noch mit den sauren Trauben zu tun, die der Fremdenverkehr hinterlässt. Zu sehen im nebelgrauen Dorf, im weiss verputzten Olgiati-Würfel, nahtlos passend zu den Bausünden der Umgebung. Was auf Ski­pisten und Wanderwegen liegen bleibt, ist ein gutes Thema zu den Schattenseiten des Massentourismus. Die eingesammelten Abfälle der Clean-up days in Flims-Laax sind hier Ausstellungsobjekte. Die Poesie des Gefundenen beginnt mit einer Installation fotografischer Nahaufnahmen, die weggeworfene Bananenschalen, Taschentücher, Styropor, Plastikfolien und Aludosen ästhetisch perfekt inszenieren. Zu jedem Bild wird auf dem Fussboden die Verrottungszeit an­gegeben. Sie reicht von 60 Jahren für Nylon über 120 Jahre für Plastik, zu 500 Jahren für Blechdosen, zu 6000 Jahren für Styropor oder bis zu 50 000 Jahren für Glas. Selbst ein Kaugummi oder Zigarettenstummel bringen es auf 2–5 Jahre. Am Ende der Eiszeit hat ein gewal­tiger Bergsturz die Flimser Landschaft geformt. Kunststoffe, die synthetischen Polymere der Petrochemie, werden selbst geologische Zeiträume überdauern. Den hübsch angeordneten Plastikfunden folgen die Klanginstrumente aus gefundenen Pistenpfosten. Ein Perkussionsset aus bunt lackierten Stangen, die zu Marim­ba und anderen Klangspielen einladen. Das war’s dann auch. Ein Faltblatt mit einigen Ermahnungen richtet sich an die Kids. Wir sind alle froh, wenn sie und ihre Begleitpersonen in der nächsten Wintersaison ihre Abfälle im Hotel entsorgen oder wieder nach Hause nehmen. Die abgeführten Mülltonnagen des Kurortes sind kein Thema. Wenn alles rund läuft, werden sie vorsortiert und schliesslich verbrannt. Die Anla­gen liefern vielleicht Strom und Fernwärme, wenn sie modern sind. Eine Kreislaufwirtschaft, die zu­mindest in Ansätzen einer Wiederverwertung nahekommt. Littering beginnt im Kopf. Der Mentalität einer Wegwerfgesellschaft ist schwierig beizukommen. Ohne die Verpackungsmaterialien wäre der gewohnte Konsum nicht möglich. Die Katastrophenmeldungen über ozeanische Mülldeponien und abfallverseuchte balinesische Strände haben wenig Wirkung. Seit der erste Skipper vor mehr als 20 Jahren über die grausige Ansammlung von Bechern, Fischernetzen, Polystyrol-Verpackungen und Sixpack-Ringe berichtete, hat sich der Müllstrudel an mindestens sechs weiteren Meer­gebieten ausgeweitet. Stiele von Wattestäbchen, die in Flims nicht verbrennen, werden irgendwann ins Meer gespült und dort in winzigste Bruchstücke zerlegt. Selbst im Marianengraben und in menschenleeren Eiswüsten sind Überreste der Polymere nachgewiesen. Acryl, Nylon, Polyester und PVC werden einmal zu Pulvergrösse zermalmt vom Zooplankton verschluckt oder lange vorher aus den Mägen von Vogelkadavern und Walen freigelegt. Plastik ist biologisch nicht abbaubar. Ein Plastiksack aus dem Segnesgebiet überlebt mühelos die genannten 120 Jahre. Fotochemisch von UV-Strahlen zerlegt, wird ihn das Schmelzwasser ins Tal bringen, wo er vielleicht eines Tages über das Trinkwasser in die Touristenmägen gelangt.
Die Poesie des Gefundenen hat Italo Calvino (1923–1985) in seinen unsichtbaren Städten besser eingefangen [1]. Marco Polo entwirft für den Mongolenherrscher fünfundfünfzig Städtebilder unterschiedlichster Beschaffenheit. Darunter ist auch Leonia, die Stadt, die sich täglich neu erfindet. Leonias Wohlstand misst man an dem, was täglich weggeworfen wird. Die wahre Leidenschaft der Bewohner ist nicht der Genuss, sondern das Abstossen und Entfernen, das Sich-Reinigen von einer immer wiederkehrenden Unreinheit. Die neuen Materialien widerstehen Wind, Wetter, Fäulnis und Verbrennung. Eine Festung unzerstörbarer Überreste umgibt die Stadt.
erhard.taverna[at]saez.ch
1 Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte, dtv, 10. Auflage 1999.