Wer trägt die Schuld am Klimawandel?

Briefe / Mitteilungen
Édition
2019/16
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17777
Bull Med Suisses. 2019;100(16):583

Publié le 16.04.2019

Wer trägt die Schuld am Klima­wandel?

Seit Anfang der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind der Menschheit die Gefahren eines Klimawandels bewusst, da zahlreiche Wissenschaftler auf die Folgen der vom Menschen verursachten Erderwärmung aufmerksam gemacht haben, nicht zuletzt an der ersten Welt-Klimakonferenz vom Februar 1979 in Genf. Die Wetterforscher sagten voraus, der Meeresspiegel könne bis zu fünf Meter ansteigen, wenn die Eismeere und Gletscher weiter schmölzen. Heute, Ende März 2019, wurde bekannt, dass die Temperatur in Alaska in der Folge einer Rekord-Hitzewelle 20 Grad wärmer sei als üblich. Ein Zusammenhang zwischen dem warmen Wetter und der Erderwärmung sei unbestreitbar. Zahlreiche andere alarmierende Nachrichten lassen erkennen, dass der Klimawandel mit seinen negativen Folgen schon weit fortgeschritten ist. Die Klima­katastrophen aus jüngster Zeit haben schon viele Todesopfer, Krankheitsfälle und Armut erzeugt. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass die junge Generation vor der Zukunft Angst hat und Garantien für ein ungestörtes Leben verlangt. Die Jugend möchte mehr Massnahmen gegen den Klimawandel durch eine Reform aller Lebens­gewohnheiten, die für die Zerstörung der ­Umwelt verantwortlich seien. Mehr und mehr hört man neben den Forderungen an die Po­litiker für mehr Aktion auch Schuldzuwei­sungen gegenüber der älteren Generation, welche das natürliche Lebensumfeld in einem schlechten Zustand vererbe. Eine solche Situation ist in der Geschichte der Menschheit ­einzigartig, dass die jungen Menschen die Vorfahren für Ungenügsamkeiten ihrer Lebensentwicklung verantwortlich machen wollen.
Diese Situation eines moralischen Aufstands der Jugend gegen die vorangegangenen Generationen verdient indessen einige Bemerkungen. Die anthropogene Klimaveränderung mit der Bedrohung der vitalen Ökosysteme muss im Rahmen der ganzen historischen Entwicklung der menschlichen Zivilisation gesehen werden, d.h. als die Spitze des Evolutionsprozesses, der von dem Menschen nur sehr beschränkt beeinflusst werden kann. Dass seit Jahrzehnten der Einsicht einer drohenden ­Gefahr für die Weiterexistenz keine entscheidenden Massnahmen gefolgt sind, beweist den unausweichlichen, prädeterminierten Charakter des Entwicklungsprozesses, in dem sich die Menschheit befindet. Die Selbsterhaltungstriebe des Menschen werden zunächst von anderen Strebungen neutralisiert, welche sich dem Entwicklungsverlauf entgegenstellen. Die Jugend hat angesichts der wachsenden Bedrohung die Schwelle zwischen konservativer Erhaltung der Lebens­gewohnheiten und der Umstellung auf neue Werte zu überspringen vermocht. Die Übertragung der Verantwortung für die heutige Misswirtschaft an die vergangenen Generationen bedürfte aber einer strengeren Analyse. Gleichzeitig stellt sich auch die Frage, welche konstruktiven Vorschläge von der Jugendbewegung ausgehen können, die imstande wären, eine fundamentale Verbesserung der mensch­lichen Lebensgewohnheiten für die Zukunft herbeizuführen. Ein in einer Demo mitgeführtes Plakat «do not fuck the earth, but fuck each other» zeigt, dass wo viel guter Willen vorhanden ist, brauchbare Ideen gegenwärtig noch fehlen.
Für eine Bekämpfung der Erderwärmung sind die Massnahmen, die man allgemein zu ergreifen vorschlägt, zweifellos nützlich, aber ungenügend, selbst wenn sie global durchgesetzt würden. Andere Massnahmen werden erst in Betracht gezogen werden, wenn es für tiefgreifende Sozialreformen zu spät ist. Solange das Bevölkerungswachstum weiter fortschreitet und die verfügbaren Ressourcen nicht sinnvoller verteilt werden, wird die existentielle Bedrohung durch einen Zusammenbruch der Ökosysteme fortbestehen.