Gespräch über Schuld und Schuldgefühle in der therapeutischen Beratung

Schuldgefühle ohne Schweigepflicht

Horizonte
Édition
2019/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17694
Bull Med Suisses. 2019;100(12):447

Affiliations
Dr. med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

Publié le 20.03.2019

Jürg Kollbrunner
Gespräch über Schuld und Schuldgefühle in der ­therapeutischen Beratung.
Idstein: Schulz-Kirchner Verlag; 1. Auflage 2018.
120 Seiten.
ISBN 978-3-8248-1236-3
E-Book: ISBN 978-3-8248-9939-5
Hast Du heute schon die Zähne geputzt? Diese Kinderfrage kommt unschuldig daher – und kann doch Schuldgefühle auslösen. Auf 120 Seiten geht Psychotherapeut Jürg Kollbrunner in seinem 2018 erschienenen Buch «Gespräch über Schuld und Schuldgefühle in der therapeutischen Beratung» der Thematik allgemeinverständlich auf den Grund, indem er theoretische Erwägungen mit Gesprächsauszügen aus seinem Therapiealltag ergänzt.
Demzufolge ist es mit Schuldgefühlen ähnlich wie mit anderen Unwohlsein auslösenden Affekten, zum Beispiel der Angst oder dem Ekel: Wir brauchen sie zum Überleben, aber im Übermass können sie das Leben unerträglich machen. Dann bedarf es der Behandlung. Der bis zu seiner Pensionierung vor fünf Jahren an der HNO-Universitätsklinik in Bern als Psychotherapeut, klinischer Psychologe und Psychoonkologe tätige Jürg Kollbrunner möchte einleitend die Ausbildung im Umgang mit Schuld und Schuldgefühlen verbessern, nachdem er in den umfangreichen Stichwortverzeichnissen moderner psychologischer Lehrbücher viel zu selten auf die Begriffe «Schuld» und «Scham» gestos­sen sei. Das verwundere angesichts der hohen Präsenz des Themas in der medialen Öffentlichkeit, Politik und im Alltagsleben. Der Begriff der «Schuldgefühle» finde sich in mehr oder minder seriöser Ratgeberliteratur, aber man treffe therapeutisch oft die Haltung an, diese Schuldgefühle sollten abgebaut und möglichst schnell vergessen werden. Laut Kollbrunner wird aber genau mit der Erteilung dieses unreflektierten Rats die Aus­einandersetzung mit Schuldgefühlen, deren Ursprung eine reale Schuld ist, verhindert. Therapeuten sollten sich vielmehr trauen, erwachsenen Patientinnen und Patienten oder Eltern an Schuldgefühlen leidender Kinder gegenüber von möglicher Schuld zu sprechen.
Kollbrunner führt dann das Gedankenexperiment durch, Ratschläge von Fachleuten neu zu interpretieren, indem er die indirekten Beschuldigungen dahinter aufdeckt. So könne der Satz aus einem ADHS-Ratgeber «Loben Sie Ihr Kind» ausdrücken: «Sie kritisieren zu viel und loben Ihr Kind zu wenig». Diese indirekte Beschuldigung wirke negativer als eine direkte.
Anschliessend beschreibt der Autor Schuldgefühle von Therapeutinnen und Therapeuten. Er zitiert unter­stützend Arthur Schnitzlers Bonmot: «Und wenn Dir ein Ziegelstein auf den Kopf fällt, bist Du ganz sicher, dass es nicht doch Deine Schuld war?»
Unter Zuhilfenahme von Tabellen geht Kollbrunner in weiteren Kapiteln auf Grundtypen von Schuld­gefühlen, Hilfe bei authentischen Schuldgefühlen, ­Eltern mit chronischer leichter Schuld und Hilfsmöglichkeiten bei übernommenen Schuldgefühlen ein und gibt Tipps zur Linderung von Schuldgefühlen, die übersteigerte Reaktionen auf minimale Schuld sind.
Dem Anhang mit Mitschriften aus 23 therapeutischen Dialogen folgt ein vierseitiges Literaturverzeichnis, in dem zwar Klassiker wie Leon Wurmsers «Maske der Scham» fehlen, aber andererseits Trouvaillen wie «Tao Te King» von Laotse zu finden sind.
Insgesamt hat Jürg Kollbrunner ein kleines, aber feines Büchlein verfasst, das jeden Arzt, der Patientinnen und Patienten zuhört, nicht nur bereichern, sondern auch trotz des ernsten Themas zum Schmunzeln bringen kann.
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