Mensch und Maschine

Tribüne
Édition
2019/1718
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17651
Bull Med Suisses. 2019;100(1718):621-622

Affiliations
Online- und Printredaktor SÄZ

Publié le 23.04.2019

Bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 lässt die Therapietreue häufig zu wünschen übrig, obwohl das willkürliche Weglassen verschriebener Medikamente schwerwiegende Gesundheitsprobleme zur Folge haben kann. Wie sich die Adhärenz verbessern lässt und welche Unterstützung dabei digitale Tools und Techno­logien leisten können, war Thema an der Diabetes Key Note Session in Bern.
Verschiedene Praxisstudien zeigen, dass nach ein bis zwei Jahren Therapie nur noch 30–40% der Diabetes-Typ-2-Patientinnen und -Patienten regelmässig ihre ­Medikamente einnehmen. Diese Erkenntnis stellte Professor Roger Lehmann, Leiter Diabetologie und klinisches Inseltransplantationsprogramm am Universitätsspital Zürich, an den Anfang seines Referates mit dem Titel «Heute mal ohne meine Medikamente: So what?». Welch gravierende Folgen eine schlechte Therapieadhärenz haben kann, zeigte der Experte anhand verschiedener Studien auf. So nimmt das Risiko, einen Schlaganfall, einen Herzinfarkt oder einen kardiovaskulären Zwischenfall zu erleiden bzw. eine Herzinsuffizienz zu entwickeln, bei mangelnder Therapietreue massiv zu. Umgekehrt sinkt die Gesamtmortalität bei Patientinnen und Patienten mit einer guten Therapieadhärenz um fast ein Drittel.
Roger Lehmann referierte über die Auswirkungen einer schlechten Therapieadhärenz.

Kommunikation steht im Zentrum

Doch welches sind die Gründe für die schlechte Ad­härenz? Für den Experten steht fest, dass es meistens ganz profane Gründe sind, wie dass ein Patient den Sinn eines Therapieplans nicht kennt, die Angst vor Nebenwirkungen, die Kosten oder die Menge an Tabletten, welche die Betroffene regelmässig einnehmen muss.
Für Lehmann bildet deshalb das Vertrauensverhältnis und die Kommunikation zwischen Arzt und Patienten das Fundament einer adhärenten Diabetestherapie. Erst wenn der Erkrankte versteht, wozu ein Medikament verschrieben wurde, kann er auch motiviert ­werden, dieses regelmässig einzunehmen. In einem weiteren Schritt können durch eine geschickte Medikamentenwahl und Wirkstoffkombination einerseits die Menge der einzunehmenden Tabletten und andererseits die Therapiefrequenz reduziert werden.
Grundsätzlich rät Roger Lehmann, nach einer Diabetesdiagnose eine multifaktorielle Therapie einzuschlagen, zu der unter anderem ein Rauchstopp, vermehrte körperliche Aktivität, ein individuelles Gewichts­management und die Überwachung bzw. Korrektur der Blutzuckerwerte und des Blutdrucks gehören. In dieser Phase eigne sich Metformin als Erstlinienmedikation.

Frühzeitige Therapieintensivierung und clevere Kombinationen

Studien zeigen, dass eine frühzeitige Therapieintensivierung die Mortalität und die Häufigkeit sekundärer Gesundheitsstörungen deutlich senken kann. Dazu eignen sich gemäss dem Experten neuere Wirkstoffe, wie SGLT-2-Hemmer, GLP-1-Analoga oder DDP-4-Hemmer bzw. deren Kombinationen. Lehmann rät jedoch, im Vorfeld abzuklären, ob die Kosten einer gewählten Kombination von der Krankenkasse schlussendlich übernommen werden.
Dem Diabetologen ist bewusst, dass in vielen Hausarztpraxen das Wissen und die Erfahrung mit Kombinationstherapien den Entwicklungen hinterherhinkt. Schliesslich komme eine stets wachsende Vielzahl von Kombinationspräparaten auf den Markt, was die Wahl des Therapeutikums zusätzlich erschwert. Der Experte rät denn auch den Hausärztinnen und Hausärzten, in Wirkstoffklassen zu denken und davon jeweils das bewährteste Präparat zu wählen.

Ein boomender Wirtschaftszweig

Unterstützung beim Management von Diabetespatienten bieten zunehmend digitale Tools und Technologien. Welche Trends sich in diesem Bereich abzeichnen und welchen Mehrwert solche Innovationen im Hinblick auf die Adhärenzthematik haben können, zeigte anschliessend Andréa Belliger in ihrem Referat auf. Die Professorin erforscht im Rahmen ihrer Tätigkeit als Prorektorin an der PH Luzern und Co-Leiterin des Instituts für Kommunikation und Führung in Luzern unter anderem die digitale Transformation im Gesundheitsbereich.
Für Belliger ist die Ausgangslage für digitale Tools im Diabetesbereich vielversprechend: Weltweit besitzen rund zwei Drittel der Diabetespatienten ein Smartphone. Nur gerade 5% dieser Population nutzt derzeit jedoch technische Unterstützung fürs Management der eigenen Erkrankung. So überrascht es nicht, dass aus diesem Bereich bereits ein eigener, boomender Wirtschaftszweig entstanden ist.
Andréa Belliger über den Mehrwert digitaler Tools und ­Technologien im Adhärenzbereich.

Umfassenden Lösungen gehört die ­Zukunft

Für die Expertin zeichnen sich in der Digital Diabetes Care einige klare Trends ab. So haben Apps, die beispielsweise «nur» die Schritte zählen, ausgedient. Die Zukunft gehört holistischen Lösungen, auch als «bun­dles» bezeichnet. In diesen werden nicht nur die Messwerte verschiedener Geräte und Sensoren miteinander verknüpft. Die Geräte bieten den Patienten zusätzlich weiterführende Dienstleistungen, wie Coachings oder Bestellmöglichkeiten, beispielsweise für Verbrauchsmaterial wie Teststreifen.
Zudem kommen laut Belliger fast nur noch Tools auf den Markt, die auf wissenschaftlichen Studien basieren und deren Datenqualität anhand von Outcome-Messungen überprüft werden. Dieser Umstand hat den positiven Nebeneffekt, dass sich die Krankenkassen vermehrt an den Kosten digitaler Helfer beteiligen.
Und noch ein Trend sei offensichtlich: Die digitalen ­Lösungen werden immer kundenorientierter. Dies spiegelt sich unter anderem in der verbesserten Benutzerfreundlichkeit wider. Dazu gehört auch eine nutzerfreundliche Visualisierung der gesammelten Daten, die damit auch für Laien verständlicher werden. Diese Entwicklung eröffnet eine interessante Schnittstelle: Plötzlich stehen in der Fachperson-Patienten-Beziehung neue Werte, wie eine offene Kommunikation, Transparenz und Partizipation im Zentrum – alles Schlüsselfaktoren, die für eine Verbesserung der Therapieadhärenz von entscheidender Bedeutung sind. Und hier liegt wohl denn auch der grösste Nutzen dieser innovativen Technologien.
mscholer[at]emh.ch