Bettmümpfeli-Visiten

Horizonte
Édition
2019/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17530
Bull Med Suisses. 2019;100(07):232

Affiliations
Dr. med., ehemaliger medizinischer Chefarzt Spital Wetzikon, Mitglied FMH

Publié le 13.02.2019

Klagen der Spitalärztinnen und deren Kollegen über zunehmende Bürokratie und schwindende Zeit für direkte Patientenkontakte sind nicht neu. Immer wieder wurde versprochen, das Problem durch elektronische Datenverarbeitung, Lean Management und Smarter Medicine zu entschärfen, doch hat die Deprofessionalisierung in den letzten Jahren eher noch zugenommen. Berufung ins Büro anstatt an die Betten.
Der Frust dieser nur noch selten Be-hand-elnden kann durch die altbewährte Gewohnheit der «Bettmümpfeli-Visiten» verhindert oder wenigstens gemildert werden. Es sind abendliche Besuche ohne den Begleit­tross von anderen Mitgliedern des Teams, ein kurzes Vorbeischauen unter vier Augen, ­soweit das die Räumlich­keiten erlauben. Kein Studium von Krankenakten, keine Störung durch Piepser oder Smartphone. Geduldig und aufmerksam hinsitzend, einfühlend, erklärend, ermunternd, tröstend – was immer die Situation erfordert –, vor allem aber gut zuhörend. Das ist keine Zeitverschwendung, sondern zeitsparend, weil dank zusätzlicher Informationen diagnostische Umwege vermieden und falsche Einschätzungen korrigiert werden können.
Das sind zwar nostalgische Vorstellungen eines alten Handholders, die sich heute seltener verwirklichen lassen, weil die meisten Patienten nach sehr kurzem Spitalaufenthalt bereits wieder entlassen werden. Es gibt aber viele akut oder chronisch kranke Menschen, die nicht nur als Fälle durchgeschleust werden möchten, sondern persönliche Zuwendung schätzen: Am Abend vor oder nach einem grossen Eingriff – jetziges Befinden anstatt gestrige Befunde – Fortsetzung einer am Vormittag unterbrochenen Visite – Abbau von Missverständnissen, Ängsten oder Ärger – Ergänzungen der Anamnese. Offene Wünsche oder Fragen? Gute Nacht!
Bettmümpfeli-Visiten schaffen eine Win-win-Situation, weil nicht nur die Kranken davon profitieren, sondern oft auch die gehetzten Heiler, die sich für einige Momente entspannen können. Burn-out-Prophylaxe, geliebter Beruf anstatt Job wie jeder andere. Wen werden Sie bei nächster Gelegenheit besuchen und besser kennenlernen?
Dr. med. Bernhard Gurtner
Eggstrasse 6
CH-8620 Wetzikon
gurtner.bernhard[at]bluewin.ch