Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit – eine Kunst, die niemand kann ?

Briefe / Mitteilungen
Édition
2019/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17489
Bull Med Suisses. 2019;100(03):44

Publié le 16.01.2019

Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit – eine Kunst, die niemand kann?

Die Autoren führen aus psychiatrisch-klinischer und juristischer Sicht gewissenhaft die Vorgaben für diesen «anspruchsvollen Routinevorgang» vor Augen. Die Problematik der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit hat mich in der Praxis von Anfang an begleitet und verunsichert. Als Ausdruck dafür habe ich mich schon kurz nach Eröffnung zu einem Artikel in der Basler Zeitung mit obigem Titel [1] und im Baslerstab, dem ehemaligen Regional­anzeiger für Basel und Umgebung, sogar zum Aufruf «Schafft die Arztzeugnisse ab» [2] hinreissen lassen. Als Konsequenz habe ich in der Folge in Qualitätszirkeln und an einer Fort­bildungsveranstaltung zusammen mit einem als Arbeitsfähigkeitsassessor zertifizierten Kollegen (ZAFAS sim) versucht, Kollegen die Wichtigkeit ihrer Funktion bei der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und beim Ausfüllen der Arztzeugnisse nahezubringen. Dieses Engagement mündete in einen Artikel in Primary and Hospital Care [3] mit besonderer Berücksichtigung der Aspekte in der Arztpraxis. Neben der gewissenhaften klinischen Untersuchung ist die Erfassung der subjektiven Beeinträchtigung durch die Symptome, aber auch eventuelle Probleme im Umfeld der Pa­tienten gefragt. Tauchen da für den Beurteiler Fragezeichen auf, ist eine Kontaktnahme mit Angehörigen, Personalverantwortlichen oder Vorgesetzten, im späteren Verlauf eventuell mit einem Vertrauensarzt der zuständigen Versicherung [4] angezeigt, im Normalfall im Einverständnis mit dem Patienten. In besonderen Fällen, wie gehäuften Kurzabsenzen und wiederholtem Wunsch nach einem Arztzeugnis, habe ich mir, ohne Verletzung des Arztgeheimnisses, eine Rückfrage bei der ­zuständigen Stelle erlaubt. Solche Kontakte werden umso wichtiger, wenn sich eine längere Absenz am angestammten Arbeitsplatz abzeichnet. Dann geht es auch darum, die Möglichkeit einer Reintegration in den Arbeitsalltag mittels Arbeitsversuch am bis­herigen oder einem anderen Arbeitsplatz ohne Verlust von Taggeldleistungen zu starten. Niklas Baer, Leiter der Psychiatrischen ­Rehabilitation BL, hat immer wieder auf die Wichtigkeit von solchen Kontakten, «bevor das Geschirr zerschlagen ist» [5], hingewiesen. Dass Ärzte durch unkorrekte Arbeitsunfähigkeitszeugnisse nicht nur durch Art. 43 der FMH-Standesordnung, sondern auch durch Art. 318 des Strafgesetzbuches belangt und sanktioniert werden können, habe ich nicht nur als früherer Betriebsarzt, sondern auch jetzt in meiner Funktion als Präsident des Ehren­rates unserer Ärztegesellschaft leider in zunehmendem Mass feststellen müssen. Der Druck auf die Ärzteschaft nimmt von seiten der Arbeitgeber und den Versicherern (Taggeld, IV, SUVA, Krankenkassen) immer mehr zu. Fühlt sich der behandelnde Arzt in der ­korrekten Beurteilung überfordert, so kann er den Patienten an einen freiberuflich tätigen ZAFAS-Spezialisten überweisen, muss aber vorher abklären, wer die Kosten für diesen Zusatzaufwand übernimmt. So oder so ist es höchste Zeit, dass die Beurteilung einer ­Arbeitsunfähigkeit, unabhängig, ob reduziert oder vollständig, sowie die Ausstellung eines Arztzeugnisses mit der geforderten ausführ­lichen Dokumentation in der Krankengeschichte endlich aufwandgerecht vergütet werden.