Aus dem Kompendium Epikurs: Das Tetrapharmakon

Horizonte
Édition
2019/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17477
Bull Med Suisses. 2019;100(07):230-231

Affiliations
Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Mitglied FMH

Publié le 13.02.2019

Trotz der vielschichtigen Aspekte, die unser Berufs­leben mit sich bringt, verstehen wir Ärzte und Ärztinnen uns doch in erster Linie als Wissenschaftler. Im Allgemeinen sind wir aber weder theoretische Grübler noch Herumexperimentierer zum Selbstzweck. Die medizinische Forschung und die Erschliessung neuer technischer oder pharmakologischer Optionen sind vorab auf praktische Probleme ausgerichtet: auf Prävention und Behandlung gängiger Leiden und Gebrechen. Eine verbesserte Einsicht in physiologische und pathologische Zusammenhänge nährt bei Arzt und Patient aber auch ein zuversichtliches Sicherheitsgefühl, den Launen der Natur nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. Die blosse Verfügbarkeit der wissenschaftlichen Medizin kann somit bereits therapeutische Züge aufweisen, im Sinne eines breit wirksamen Anxioly­tikums. Die unseren Patienten vermittelte Kenntnis der aktuellen kurativen und palliativen Möglichkeiten erleichtert diesen nämlich nicht nur den Umgang mit einer spezifischen Krankheit, sondern vermag auch ganz allgemein die notorischen Hemmnisse allen Lebensglücks, wie die Angst vor Autonomieverlust, vorzeitigem Tod oder unerträg­lichem Schmerz, zu vermindern oder gar zu beseitigen. Mit dem angemessen aufgeklärten Patienten meistern wir Ärzte und Ärztinnen dann auch den oftmals heiklen

Eine verbesserte Einsicht in physiologische und pathologische Zusammenhänge nährt ein zuversichtliches Sicherheitsgefühl.
Balanceakt zwischen Anspruchsdenken und effektiver Notwendigkeit. Nur eine dergestalt austarierte, evidenzbasierte Therapie bietet schlussendlich die grösstmögliche Wahrscheinlichkeit, alle Beteiligten zufriedenzustellen: die Patienten und Patientinnen, die Ärzteschaft und nicht zuletzt auch die Kostenträger.

Leben ohne Angst und Stress

Die Bekämpfung der Lebensängste, mit dem Ziel, individuelle Ruhe und Glück zu finden, ist nicht nur ein mögliches Epiphänomen der wissenschaftlichen Medizin, sondern war auch ein zentrales Anliegen des antiken Denkers Epikur (341–270 v. Chr). Entgegen einem landläufigen Vorurteil ermuntert er nicht einfach dazu, in gedankenloser Lebenslust leiblichen Bedürfnissen nachzujagen. Im Gegenteil: Seine glückverheis­sende Philosophie – er bezeichnet sie als Tetrapharmakon, als vierfach wirksames Präparat – ist erst nach dem Studium des theoretischen Beipackzettels sinnvoll anzuwenden. Bevor es ans Praktische geht, erklärt uns also Epikur erst einmal sein Modell vom Aufbau der physikalischen Welt und seine Meinungen über Götter und Menschen, Körper und Seele, Vorsehung und Moralität. Seine Vorstellungen sind eigentlich recht einfach und wirken auch heute noch durchaus modern: Das ganze Universum besteht nach ihm aus unendlich vielen, kleinsten Einheiten – den Atomen –, die sich, wie in einem Kaleidoskop, völlig zufällig zusammenfänden und dann auch wieder voneinander trennten. So entstehe die veränderliche Welt der be­lebten und unbelebten Körper. Auch die menschliche Seele sei nur ein solch flüchtiger materieller Zustand, sie sei daher vergänglich, und dies gelte in demselben Sinn ebenfalls für alle traditionellen moralischen oder religiösen Werte. Die von dem antiken Denken überlieferten Gottgestalten hätten sich längst in bequemere Winkel des Alls zurückgezogen, wo sie – für uns völlig harmlos – einem bedürfnislos glücklichen, eigenbrötlerischen Dasein frönten. Die aktuelle Welt sei ein reines Produkt des Zufalls, für jede Art von angestammter Ordnung, Vorsehung oder sinnhafter Bestimmung sei hier kein Platz. Die Einsicht in diese physikalischen und metaphysischen Erkenntnisse seiner Philosophie soll nun eben, im Sinne einer vierfach wirksamen Medizin, die Haupthemmnisse eines heiteren Lebens beiseite räumen: Die Angst vor zürnenden Göttern, die­jenige vor dem Tod und vor unerträglichem Schmerz sowie die weitverbreitete Sorge, wohl niemals wirklich glücklich zu werden. Den Wirkmechanismus seines ­Tetrapharmakons erläutert er dann folgendermassen: Die Götter brauche niemand zu fürchten, die seien ja weit weg und hätten Besseres zu tun, als sich in unser Leben einzumischen. Der Tod soll uns ebenfalls wenig bekümmern, da wir unsere Sensibilität ja nur der ­lebenden Materie verdanken und somit den Sensenmann, wenn er dann einmal da sein wird, gar nicht mehr fühlen können. Auch die Furcht vor Schmerzen sei unangebracht, da diese meist akut aufträten und dann entweder von selbst nachliessen oder im Extrem­fall schnell zu Bewusstlosigkeit oder Tod führten. Chronische Schmerzzustände hingegen würden mit der Zeit als uns selbst zugehörig erscheinen und seien durch vernünftiges Denken durchaus beherrschbar. Was den vierten und letzten Punkt, die Angst, niemals glücklich zu werden, betrifft, schlägt Epikur vor, sich 

Chronische Schmerzen würden mit der Zeit als uns selbst zugehörig erscheinen und seien durch vernünftiges Denken beherrschbar.
nur auf den Genuss der naturnotwendigen Bedürfnisse zu konzentrieren. In gewissen Fällen, beispielsweise bei Speis und Trank oder auch in der körper­lichen Liebe, dürfe – wohldosiert und ohne einem anstrengenden Hedo­nismus zu verfallen – diese Regel durchaus auch zeitweilig überschritten werden. Auf weiterführende Ansprüche und Begehrlichkeiten aber, wie etwa das Streben nach Ruhm, Reichtum oder Macht, sei grundsätzlich zu verzichten. Letztere seien mit zu vielen ­Nebenwirkungen belastet: Sie liessen sich nur schwer befriedigen, führten zu stets neuen Wunschvorstellungen und seien damit der schlimmste Feind unserer Seelenruhe und allen schmerzlos-hei­teren Lebensglücks. Dieses Letztere – ein stressfreies easy live – bleibt das Hauptziel unseres Philosophen und seiner Nachfolger, die seine Denkweise viele Jahrhunderte hinweg weiterverfolgt haben.

Acidum acetylsalicylicum – a new job for an old drug

Epikurs atomistisch-mechanistisches Weltbild bildet die Basis der postulierten vierfachen Heilkraft seiner Philosophie, wirkt aber vielerorts stark vereinfachend, und auch die Herleitung der daraus hervorgehenden praktischen Schlussfolgerungen ist nicht immer eindeutig nachvollziehbar. Ihm geht es eben um eine Wissenschaft im Dienste des Lebens und nicht umgekehrt. Er gleicht da vielleicht ein wenig uns Ärzten und Ärztinnen. Auch wir sind nämlich eher pragmatische ­Naturforscher, und unter dem Motto «It’s hard to argue with success» fördern wir meist nur diejenigen Grundlagen zutage, die wir gerade benötigen, um ­unseren therapeutischen Auftrag möglichst effektiv erfüllen zu können. Epikur vermied das grosse Publikum und rezeptierte sein Tetrapharmakon lieber im kleinen Freundeskreis, mit dem er sich gerne im ­Garten seines Hauses in Athen zusammensetzte. So ähnlich wie die Mehrheit aller medizinischen Einzelkämpfer, die in aufklärenden Gesprächen tagtäglich versuchen, ihren Patienten die Grundlage und den Wirkmechanismus einer vorgesehenen Behandlung nahezubringen. Die wissenschaftlich berechtigten ­Erwartungen, die der Erkrankte von dieser Letzteren vernünftigerweise erwarten darf, entfalten dann ­potentiell einen eigenen, über die messbare physikalisch-chemische Haupt­wirkung hinausgehenden Effekt. Eine solche spekulative Aussage lässt sich natürlich nicht beweisen, sondern nur beispielhaft erläutern: So könnte etwa die einem adäquat informierten Patienten verschriebene Acetylsalicylsäure durchaus auch eine im Kompen-

So könnte die einem adäquat informierten Patienten verschriebene Acetylsalicylsäure auch eine anxiolytische Wirkung aufweisen.
dium noch nirgends beschriebene anxiolytische Wirkung aufweisen. Dank ihrer wohlbekannten analgetischen und aggregationshemmenden Eigenschaften bekämpft sie nämlich zugleich die Angst vor Schmerzen, Herztod und vaskulärer Demenz sowie vor der damit verbundenen Abhängigkeit von Göttern in Weiss. Mit etwas Fantasie entspricht das gerade den ersten drei positiven Effekten, die auch Epikur mit der Vermittlung seiner Philosophie erreichen will. Die Vollversion des Tetrapharmakons hingegen, die uns auch noch die Angst nehmen soll, niemals glücklich zu werden, wird wohl kaum auf ärztliches ­Rezept zu haben sein. Der Rat des Philosophen, sich auf das Notwendige zu beschränken und auf unnötige ­Ansprüche und Begehrlichkeiten zu verzichten, darf aber dennoch von allen im ­Gesundheitswesen Beteiligten durchaus zu Herzen ­genommen werden.
Dr. med. Jann P. Schwarzenbach
Medicina generale FMH
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