Schutzmasken

Horizonte
Édition
2019/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17466
Bull Med Suisses. 2019;100(10):360

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publié le 06.03.2019

Mathematische Verfahren zur Mustererkennung in ­digitalisierten Bildern werden immer perfekter. Vor allem das maschinelle Lernen ermöglicht dabei Methoden der Gesichtserkennung, wie sie bisher undenkbar waren. Selbst Mimik und Emotionen werden in einem Masse transparent, die frühere Fotoarchive, kombiniert mit Fingerabdrücken und anthropometrischen Messungen weit übertreffen. Das Ziel bleibt, seit den Absichten des italienischen Gerichtsmediziners Cesare Lombroso (1835–1909), stets das Gleiche: Durch Typisierung von Gesichtsmerkmalen Übeltäter schon frühzeitig zu erkennen. Eine präventive Auslese zum Schutz der Gesellschaft und ihrer Machthaber. Bereits in Paris Ende des 19. Jahrhunderts wurden Polizisten zur Fahndung mit Gedächtnisbildern aus visuellen und anderen Daten ausgerüstet.
Während bei uns angeblich nur das Konsumverhalten optimiert wird, demonstriert China unmissverständlich, wohin die Reise geht. Gegen die Gewalt der Überwachungsbilder sind Gegenstrategien unausweichlich. Transparenz und Wahrheit sind nicht identisch. Die Identität eines Gesichtes ist weit komplexer als eine biometrische Messung. Es gibt viel mehr Gesichter als Menschen, denn unser Ausdruck kennt ein Repertoire an Masken, die wir bewusst oder unbewusst im Alltag gebrauchen. Dazu gehören eingeübte Rollenspiele, kulturelle Eigenheiten und Täuschungsmanöver. Wir altern und ändern unsere Mimik. Gemäss Freud sind wir nicht einmal Herr im eigenen Haus und selbst was ­unsere Nächsten denken und fühlen, können wir nie vollständig ablesen.
Wie reagiert eine total überwachte Gesellschaft? Werden die Menschen nur noch die Masken tragen, die dem Kontrollapparat genehm sind? Jean-Jacques Rousseau forderte in seinen Bekenntnissen ein Herz durchsichtig wie Kristall. Augen und Gesicht sollen alles ­offenbaren, was an Regungen im Inneren vorgeht. Ganz wie der Physiognomiker Johann Caspar Lavater, der sich wünschte «in den Gesichtern, das zu lesen, was sie im Abgrund ihrer Herzen verbergen.» Man kann das heute nur aus der Zeit verstehen, denn zumindest die höfische Welt des 18. Jahrhunderts war eine Welt des Theaters. Ballet de cour hiessen die Szenenspiele mit Schminke, Haartracht und Masken; eine Lieblingsbeschäftigung der höheren Stände.
Die propagierte Sicherheit wiegt schwerer als das Private. In der Schweiz belegen Abstimmungen, dass die Bürger Sicherheit und Kontrolle höher werten als die persönliche Freiheit. Laut dem koreanischen Philosophen Yung-Hul Chan wird die Forderung nach Transparenz gerade dann laut, wenn es kein Vertrauen mehr gibt. Am Eingang seines Essays zitiert er den Schriftsteller Peter Handke: «Von dem, was die anderen nicht von mir wissen, lebe ich.» Nicht nur der kreative Mensch braucht Sphären in denen er, ohne den Blick der Anderen, bei sich sein kann. Die penetrante Transparenzgesellschaft vernichtet Freiräume. Sie sei im Grunde eine Gesellschaft des Misstrauens und des Verdachts, die nur auf Kontrolle setzte. Ein neuer Imperativ als Ersatz für moralische Instanzen wie Vertrauen, Anstand und Aufrichtigkeit. Die Kontrollen sind allerdings, auch in einer direkten Demokratie, sehr selektiv, meist gegen schwächere Minderheiten gerichtet und weit weniger; zum Beispiel gegen Steuerhinterzieher, wo bedeutend mehr Geld gestohlen wird.
Statistische Verfahren sollen den Körper für behörd­liche Zwecke verfügbar machen. Im globalen Panoptikum der sozialen Netzwerke ist jeder User Opfer und Täter zugleich. Seine Selbstdarstellung legt mehr offen als sie verbirgt. Nur die Mächtigen geben sich keine Blösse, sie verbergen sich hinter ihren inszenierten Masken. Der jährliche Karnevalbetrieb zeigt, wie unerkannt bleiben und Anderssein das humane Inventar bereichern.
erhard.taverna[at]saez.ch
Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft, Matthes & Seitz, ­Berlin, 2. Auflage 2012