Neue Dogmen?

Briefe / Mitteilungen
Édition
2019/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2019.17426
Bull Med Suisses. 2019;100(03):45

Publié le 16.01.2019

Neue Dogmen?

«Ich bin 84, gesund, aber lebenssatt. Ich möchte eine Freitodbegleitung in Anspruch nehmen.» Dies die Worte von Frau Stalder [1], einer rüstigen Seniorin, die extra aus Winterthur für diese Veranstaltung in einer Basler Kirche angereist kam. Einleitend liess sie durchblicken, dass sie schon Gespräche mit Frau Preisig [2] geführt habe, welche in dieser Podiumsdiskussion zusammen mit dem Geschäftsführer von Exit die Position vertrat, dass jeder Mensch im Rahmen seiner «Selbstbestimmung» das Recht haben soll, Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen. Ich vertrat zusammen mit einem Theologen aus der Palliative Care eine Gegenposition. Im äusseren Kreis sassen weit über hundert Personen, aus den Voten zu schliessen überwiegend Exit-Sympathi­santen.
Vier Tage später nahm ich als interessierter Teilnehmer an einer kirchlichen Veranstaltung zum Thema Sterben, Tod und mögliches Leben nach dem Tod in Winterthur teil. Ich traute meinen Augen nicht, als ich Frau Stalder dort sah. Ihr ging es wohl ähnlich. Leicht verlegen sagte sie: «Ich musste ein bisschen streiten mit Ihnen.» «Kein Problem», entgegnete ich, «aber, Frau Stalder, warum wollen Sie sterben?!» – «Ich will doch gar nicht sterben!», war ihre Antwort. Sie wolle lediglich selber bestimmen und nicht «endlos» am Leben erhalten werden. Nun ja, dafür gibt es eigentlich die Patientenverfügung.
Mich lehrte diese Begegnung unter anderem, Suizidhilfeorganisationen sind Interessenvertreter, die geschickt die Meinungsbildung beeinflussen. Immerhin fand die eingangs erwähnte Podiumsdiskussion in einer Kirche statt. Hier hätte ich nicht ein erdrückendes Übergewicht von Exit-Sympathisanten erwartet. Diese Seite scheint gut mobilisiert zu ­haben. Eine 84-Jährige reiste eigens aus Winterthur an.
Wir erleben heute mit dem vehementen Einfordern von Suizidhilfe eine neue Form von Dogmatik. Das Wort «Selbstbestimmung» wird wie ein Mantra bei jeder Gelegenheit wiederholt. Ich bin auch ein Anhänger von Selbstbestimmung. Ich möchte nicht in die Zeit zurück, wo Religion, Herkunftsfamilie oder Dorfgemeinschaft darüber bestimmten, wie der Einzelne zu leben hatte. Aber ich möchte auch nicht in einer Welt leben, wo eine neue Ideologie eine Kultur des Todes und des Wertezerfalls vorantreibt.
Als besonders schwer wiegende Fehlentwicklung betrachte ich daher die Legitimierung der Suizidhilfe bei Patienten ohne terminale Grunderkrankung, wie das die SAMW in utilitaristischer Weise vorschlug.
Wenn wir die Hürde für einen Suizid immer weiter senken, gibt es ganz einfach immer mehr Suizide. Das ist in der Suizidforschung längst bekannt und lässt sich auch aus dem Verlauf der Suizidrate, wie vom Bundesamt für Statistik erhoben, herauslesen [3]. Wenn es diese Möglichkeit nicht gäbe, würden sich demnach die meisten Menschen, die durch assistierten Suizid aus dem Leben scheiden, nicht selber umbringen. Sie würden weiter­leben und so die Chance bekommen, vielleicht neue, bereichernde Erfahrungen zu ­machen. Kolleginnen und Kollegen, die Suizidhilfe betreiben, schliessen diese Möglichkeit offenbar aus. Doch kein Mensch kann in die Zukunft ­sehen. Es ist deshalb anmassend, mit dem impliziten «ja, dein Leben ist nicht mehr lebenswert!» die Einschätzung des suizidwilligen Patienten einfach zu übernehmen.
Wir Ärzte müssen es aushalten können, auch Menschen zu begleiten, denen wir nicht helfe­n können. Auch Druckversuchen von Patientinnen und Patienten, «wenn Sie mir nicht helfen, mich umzubringen, mache ich es selbst!», gilt es zu widerstehen. Solche Situationen müssen natürlich sehr ernst genommen werden, doch eine kategorisch lebensbejahende Grundhaltung, die nicht kollusiv mit dem Patienten mitschwingt, wird hier mehr fruchten als die Angst vor einem Suizid. Gerade diese Haltung vermisse ich bei Erika Preisig, wenn ich ihr Büchlein lese [4].
Unsere Gesellschaft braucht nicht die Ab­lösung religiöser Dogmen durch anti-religiöse im Sinne von «Tu’, was du willst!». Was wir brauchen, ist Mitmenschlichkeit, die nicht für Kurzschlüsse zu haben ist, sondern bereit ist, zu helfen, zu tragen, zu schützen und Hoffnung zu vermitteln. Gerade die vulnerabelsten unserer Patientinnen und Patienten – hochbetagte, psychisch labile oder chronisch kranke Menschen – sind darauf angewiesen.