Überlegungen und Praxis in der Ausbildung der Humanmedizin

Tribüne
Édition
2018/5152
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.17358
Bull Med Suisses. 2018;99(5152):1843-1846

Affiliations
Dr. med., Facharzt für Allgemein- und Viszeralchirurgie, Ente Ospedaliero Cantonale, Bellinzona

Publié le 19.12.2018

«Medicine is learned by the bedside and not in the classroom. Let not your conceptions of disease come from words heard in the lecture room or read from the book. See, and then reason and compare and control. But see first.»
Gesellschaft und Bedingungen haben sich wesentlich geändert, wir komplettieren deshalb die Worte Oslers folgendermassen:
The substance of medicine is based on critical clinical rea­soning. Realising this, we see a good chance with case based learning on patient records. That means, working in a productive way with a real patient and the experience and failures of our collegues.
Das anvisierte Ziel müsste sein:
«Trainees must understand that the primary goal is optimal­ patient outcome, not knowledge for his own sake» [1].
Die Grundlagen für eine effektive und angepasste medizinische Ausbildung sind erarbeitet und weitgehend unbestritten: Neben der Frontalvorlesung in grossen Auditorien zurück zum Unterricht in kleinen Gruppen mit direktem Kontakt der Studierenden zu den Experten, mit der Aufforderung zum selbst motivierten Studium in Eigenverantwortung. Neben der offensichtlichen Akzeptanz und Zufriedenheit der Studenten könnte damit vielleicht die kritisierte Länge des Studiums günstig beeinflusst werden, nach dem Motto: Effizienteres Lernen führt schneller zum Ziel.

Résumé

Cela fait bien longtemps que nous avons constaté que le raisonnement et l’argumentation cliniques sont insuffisants chez les étudiants et les assistants. Il y a de nombreuses raisons à cela.
Outre l’aperçu des différents domaines de spécialité, l’année d’études à ­option, souvent peu structurée pour les étudiants, peut sans grand effort être enrichie par du case based clinical reasoning fondé sur l’anamnèse, afin de les préparer et de les motiver en vue de l’examen et de leur premier poste d’assistant. L’intérêt est bien présent, mais pour y répondre, il faut d’abord créer la confiance. Les étudiants apprennent ainsi à gérer différents scénarios de manière autonome et s’exercent à mettre en pratique leurs connaissances théoriques. Les cours se déroulent dans une atmosphère détendue et collégiale, impliquent tous les participants et accordent la place nécessaire à la dynamique de groupe. Des cadres de différentes spécialités organisent les cours ensemble, interagissent de manière complémentaire et démontrent les bases et les points communs des réflexions cliniques et d’une bonne communication, qui est également encouragée au sein du groupe. Nous utilisons aussi le mind-mapping, ou carte heuristique, pour favoriser les associations d’idées. La méthode fonctionne parfaitement, parce qu’elle ne demande pas beaucoup d’efforts ou d’infrastructure et qu’elle peut être adaptée individuellement aux conceptions des participants. Les échos des étudiants sont unanimement positifs.
Um den Kandidaten das Rüstzeug für die eidgenössische Prüfung und die erste Assistentenstelle mitzugeben und sie auf die Herausforderungen des klinischen Alltags vorzubereiten, braucht es einen motivierenden Anstoss. Als eine günstige Gelegenheit bietet sich das Wahlstudienjahr im fünften Universitätsjahr an. Eigentlich ist der Einstieg in klinisches Denken vorzusehen, die Voraussetzung für die ärztliche Tätigkeit gleich welcher Facharztrichtung. Darunter verstehen wir die Projektion des vorhandenen Wissens auf einen anspruchsvollen Patienten. Im Klinikbetrieb wurde dies bis anhin speziell an den täglichen Rapporten und auf den Patientenvisiten geübt, denn die Vermittlung von professionellem Know-how können wir wahrscheinlich nur mangelhaft durch theoretische Ausbildung im Auditorium vermitteln – nützlicher wäre Kompetenzaufbau auf Vertrauensbasis. Wir bieten Dialog und Feedback und stimulieren die Diskussion zwischen den Studenten.
Die Patientenprobleme wurden inzwischen aufgrund der demographischen Entwicklung komplexer und ­anspruchsvoller, die zeitliche Präsenz der Assistenten durch die Arbeitsverträge (50-Stunden-Woche) weniger. Das Kader hat anders gelagerte Probleme mit denselben Folgen. Die heute propagierten Videokonferenzen sind für Beginner unergiebig. Präsentationen sind ebenfalls kritisch zu bewerten, vor allem in Powerpoint-Form. Sind sie hingegen Fallbezogen und verlangen aktive Mitarbeit, wirken sie nachhaltig, blockieren aber wiederum Arbeitszeit, wovon die Assistenten in der Regel über die Hälfte am PC und im «Alleingang» mit administrativen Arbeiten verbringen (gilt auch für operative Disziplinen). Auch diese Tätigkeit müssen wir hinterfragen: Um speditiv voranzukommen, werden Kommentare und Befunde kopiert und ohne kri­tische Wertung zu überlangen Berichten zusammengestellt, die häufig unverständlich und gelegentlich fehlerhaft sind. Die redaktionelle Hauptarbeit in Spitälern liegt ­damit in der Hand der jüngsten und uner­fahrensten Mitarbeiter, mit wenig Kompetenzen und impli­zitem Wissen. Die Folgen sind mühelos vorstellbar. Für die Betroffenen selbst stehen Frustration und mangelnde Motivation im Vordergrund. Dies wird selten verbalisiert, niemand will sich schliesslich seine Chancen auf gute Bewertung durch die Vorgesetzten verbauen.
Der Erwerb praktischer Fähigkeiten (Infusionen legen, Blutentnahmen, Wundversorgungen usw.) ist bereits an die Pflege abgegeben worden. Gewisse Bedingungen sind für die Verordnung von Diagnostik zwingend, man müsste mindestens die Indikationen und Grenzen kennen und auch die Resultate selbst bewerten können (zum Beispiel Standard-Rx), was häufig nicht der Fall ist. Generell stützen sich die Assistenten auf den Befund des Radiologen, dem aber wiederum wichtige Informationen fehlen. Das Expertengespräch über die Probleme des Patienten und die Beschäftigung mit ihm kommt unweigerlich zu kurz. Die Voraussetzung für eine gute professionelle Leistung, die zusätzlich ökonomischen Kriterien genügt, wird damit in Frage gestellt. Was im diagnostischen Bereich nicht optimal beginnt, wird in ähnlichem Stil weitergehen. So führen viele Bemühungen nicht zum erwarteten Resultat, sondern eher zu vermeidbaren Komplikationen. Mindestens wir Ärzte können diesen noch einen positiven ­Aspekt abgewinnen, wenn wir sie in Form von «produktiven Fehlern» verarbeiten. Dazu braucht es eine Fehlerkultur, die auch Top-down gelebt werden muss. Es ­bestehen aber Schwierigkeiten mit dem «Wie». Wir kämpfen in erster Linie mit Zeitproblemen, dann aber auch mit Traditionen und Gewöhnung und der mangelnden Verknüpfung von Theorie und Praxis.
Aufgrund der umfangreichen Literatur bezüglich Ausbildung in der Humanmedizin besteht kein Zweifel, dass Vorschläge Erfolg haben, wenn sie in bestehende Modelle implementiert werden können, ohne umgehend eine Revolution auszulösen. Das grundlegende Prinzip in der medizinischen Ausbildung stützt sich auf Konstanz und Unterordnung. In erster Linie zur Wahrung von Sicherheit, Qualität und Kontinuität. Sie erzieht aber auch zu Passivität und behindert kritisches Denken. Und wenn schon Kritik geäussert wird, dann meist nur hinter vorgehaltener Hand. Im Rahmen der heute an­stehenden Probleme ein hinderliches Verhalten, das es ernsthaft zu überdenken gilt. Lernkulturen sind sehr ­individuell. Anleihen können wir überall machen [13].
Seit zwei Jahren nehmen wir in Bellinzona (Ospedale San Giovanni, EOC) alle Medizinstudenten im fünften ­Semester, dem Wahlstudienjahr, zweimal die Woche einen Nachmittag zusammen, um «Dossier-basiertes klinisches Denken» zu üben. Ein entsprechender Vorlauf von zwei Jahren fand vorgängig in Locarno statt. Es handelt sich um 5–12 Kandidaten (aus der Schweiz, Italien und Deutschland), die gemeinsam mit Kaderärzten verschiedener Disziplinen Patienten (nicht Krankheitsbilder) besprechen. Die Lektionen halten sich an einen kollegialen und «lockeren» Stil, nur am Rande von Teaching begleitet und ohne Powerpoint-Monologe. Was assimiliert wird, entscheidet in ­jedem Falle der Student. Aktive Teilnahme fordern wir von ­allen Kandidaten. Im Rahmen von persönlicher Ansprache und nicht von Provokation [8]. Für uns ein Bekenntnis zu Gruppendynamik und produktivem Teamwork. Sehr wünschenswert ist, wenn die Studenten selbst Patienten zur Diskussion bringen.
Das Vorgehen entspricht demjenigen auf dem Notfall oder der Abteilung (Anamnese, Befunde, Differentialdiagnose usw). Die Verwendung der digitalisierten Krankengeschichte offenbart zusätzlich die Probleme der behandelnden Kollegen, wird damit zur produk­tiven Fehlerquelle und sensibilisiert so eindrücklich auf Schwierigkeiten und Fallen in der täglichen ärzt­lichen Tätigkeit [10]. Mit Mind-Mapping (konzentrierte Ver­balisation und deren räumliche Darstellung, um Zusammenhänge besser zu erfassen) und anatomischen Strichskizzen versuchen wir, vom linearen auf sequentielles Denken umzuschalten, der gestalterische ­Aspekt gewinnt damit neben der Sprache an Bedeutung. Für viele Studenten ein Novum im Gegensatz zur linearen Niederschrift von Fakten.
Der administrative Aufwand ist minimal. Auch hier gilt Zeit- und Energieersparnis, sonst leidet schnell der Enthusiasmus, und den brauchen wir zur Motivation der Grundstimmung, ohne sich zu sehr auf die Studenten zu zentrieren [11]. Wir betonen damit die Be­deutung guter Kommunikation und die Einsicht, dass anfänglich der Mangel an implizitem Wissen durchaus mit Methodik kompensiert werden kann. Die bekannte Scheu, blossgestellt zu werden, schwindet mit dem Aufbau von Vertrauen. Aus diesem Grund finden unsere Lektionen ohne Negativ-Bewertung statt. Wir setzen auf Selbstinitiative und Nachhaltigkeit. Wer das anspruchsvolle ärztliche Metier gewählt hat, muss sich aus eigenem Antrieb vervollständigen und in ­dieser Bestrebung gefördert werden. Sachwissen ist ­eigentlich im Überfluss vorhanden, aber nicht ohne ­weiteres abrufbar, eine schmerzhafte Erfahrung! Nach unserer Meinung ein wichtiger Beitrag zur Definition des Selbststudiums, wobei das Verhältnis zwischen Memorieren und «wissen, wo finden» in den Zeiten der Wissensexplosion neu zu definieren wäre. Millennials sind für die Benutzung von Datenbanken prä­destiniert, während der Arbeit mit dem Patienten wird dies aber zu ­wenig benutzt. Nicht gefördert? Nicht erwünscht?
Aus einem anfänglich komplexen System von «Case based Reasoning» als kompetentem Ausbildungssystem [13] sind wir zu einer individuellen Alternative über­gegangen. Ob unsere Bemühungen positive Re­sultate bringen, müssen schliesslich die Kandidaten selbst beurteilen. In welcher Form sich Effekte zeigen, wollen wir mit einem Fragebogen eruieren.
Unsere klare Absage an Kontrolle, Manipulation und Wettbewerb mag vorerst befremdlich wirken, sind diese Mechanismen doch in unserer akademischen ­Arbeitswelt weit verbreitet und gehören zum obligaten Alltagsstress. Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass ­jungen Kollegen/-innen nach Jahren des Studiums ­vermehrt Vertrauen zugemutet werden muss, wenn wir sie auf dem Weg zu verantwortungsvollen Ärzten/
-innen sehen wollen. Allen Beteiligten ist klar, dass ­unser ­Angebot auf Goodwill basiert und eine Chance bedeutet. In diesem Sinne sehen wir auch den Wandel vom «Teacher» zum «Mentor», den jedes Kader selbst in ­Angriff nehmen muss [14]. Erstaunlicherweise findet unser Konzept spontan Interesse, wahrscheinlich weil ein individueller Stil erwünscht ist und eine dauernde Herausforderung und nicht Routine darstellt.

Riassunto

È ormai noto che ragionamento clinico e argomentazione critica mancano nella formazione degli studenti di medicina e dei medici assistenti. La causa è da ricercarsi in diversi fattori.
Negli ospedali ticinesi accogliamo studenti sia svizzeri che stranieri, per lo più italiani e tedeschi. Il quinto anno universitario offre loro – in previsione dell’esame finale – periodi pratici, ideali per esercitare il ragionamento clinico basato su una casistica reale, preparandoli anche al primo ruolo lavorativo come medici assistenti. Per massimizzare l’efficacia di questo breve periodo di insegnamento clinico (gli studenti restano da noi in media per un periodo da uno a due mesi) è fondamentale coinvolgerli attivamente nel processo di apprendimento. Un presupposto è senza dubbio conquistare la loro fiducia, creando un ambiente collegiale. Lo strumento per ottenere questo ambiente che abbiamo identificato come più efficace è il dialogo aperto in piccoli gruppi, in cui i docenti si pongano su di un piano paritetico rispetto ai candidati medici, discutendo apertamente con loro i casi nei loro diversi aspetti. Attualmente dieci medici quadro di diverse specialità tengono queste lezioni dando una dimostrazione del ragionamento clinico di base, valido per tutte le specialità, e utilizzando strumenti logici di semplificazione concettuale come il mind mapping, stimolo per il pensiero associativo e la comprensione visuale. Il nostro progetto funziona adesso da due anni promuovendo ­l’idea della formazione medica come vocazione e interscambio tra docente e discente. Il feed-back degli studenti è sempre molto positivo.
Ich bedanke mich bei Prof. Dr. Dr. med. et dent. Klaus Grätz, USZ, für seine Mitarbeit an diesem Manuskript und Annette Biegger, APN, MSCN, Mas-MHC, EOC, Bellinzona, für Korrekturen.
Dr. med. Paul Biegger
Paul.Biegger[at]eoc.ch
 1 Korenstein D, et al. Teaching Value in Academic Environments Shifting the Ivory Tower. JAMA. 2013;310(16):1671.
 2 Irby DM, et al. Calls for Reform of Medical Education by the Carnegie Foundation for the Advancement of Teaching: 1910 and 2010. Academic Medicine. Feb 2010;85(2).
 3 Walton H. Small Group Methods in Medical Teaching. World Federation for Medical Education. 1997;31:450–64.
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 5 Yasgur BS. Why Do Residents Order Unnecessary Labs? Issue of Today’s Hospitalist. 3/2017.
 6 Kapur M, Bielaczyc K. Designing for Productive Failure. J of Learning Sciences. 2002;21(1).
 7 Taleb NN. Skin in the Game. Hidden Assymetries in Daily Life. London: Allan Lane; 2018.
 8 Dörner D. Die Logik des Misslingens. Geo Wissen 45 / 10. Mai. Entscheidung und Intuition.
 9 Senge P, Kim D. From Fragmentation to Integration. Building Learning Communities. Thesystemsthinker.com. 2010.
10 Kusurkar RA, et al. Twelve Tips to Stimulate Intrinsic Motivation in Students trough Autonomy-supportive Classroom Teaching Derived from Self Determination Theory. Medical Teachers. 2011;33:978–82.
11 Lochner L, et al. Qualitative Study of Intrinsic Motivation of Physicians and other Health Professionals to Teach. Int J of Med Educ. 2012;3:209–15.
12 Schwartzenstein RM, et al. Saying Goodbye to Lectures in Medical School – Paradigma Shift or Passing Fad? N Engl J Med. 2017;377:605–7.
13 ten Cate O, et al. Principles and Practice of Case-based Clinical Reasoning Education. Innovation and Chance in Professional Education. Springer; 2018.
14 Simanowsky R. Das Ende der Kreidezeit – Bildung im Zeitalter der Digitalisierung. Stumme Medien. Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz; 2018.
15 Ackoff LR, et al. Turning Learning Right Side up. ISBN-10: 13-288763-0. June 2008.
16 Erault M. Professional Knowledge in Medical Practice. In: Oriol A, Pardell H, editors. Monographias Humanitanes. 2010. pp 44–67.