Nein zum Observationsgesetz: Gegen Missbrauch in der Sozialversicherung – aber nicht so!

Briefe / Mitteilungen
Édition
2018/44
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.17304
Bull Med Suisses. 2018;99(44):1540

Publié le 31.10.2018

Nein zum Observationsgesetz: Gegen Missbrauch in der Sozialver­sicherung – aber nicht so!

Am Wochenende vom 24./25. November 2018 wird über eine Gesetzesänderung im allgemeinen Teil des Sozialversicherungsgesetzes (ATSV) abgestimmt. Es soll die Observationen von Leistungsbezügern regeln. Die Gesetzesänderung greift zu stark in die Persönlichkeitsrechte ein, schürt Verunsicherung und schadet letztlich den Heilungsbestrebungen unserer Patientinnen, die auf Leistungen der Sozialversicherung angewiesen sind. Wir Hausärzte haben viel mit Patienten und Patien­tinnen zu tun, für die wir Leistungen der IV beantragen. Deshalb geht auch uns diese Gesetzesänderung etwas an. Aus diesem Grunde bin ich der Ansicht, dass wir Grundversorger Stellung beziehen und nein stimmen sollen. Was spricht gegen das Gesetz? Es ist klar: Die Öffentlichkeit hat alles Interesse daran, dass Missbrauch und Betrug aufgedeckt und verhindert werden, sei dies im Steuerwesen, im Geschäftsleben oder eben auch im Bereich der Sozialversicherungen. Dies verleiht uns als Staatsbürger Sicherheit. Vertrauen zu haben in die Korrektheit der Abläufe und die Transparenz und Gerechtigkeit von staatlichen Entscheidungen, ist ein eminen­t wichtiger Faktor für die soziale Ko­härenz. Ob dieses Ziel mit Observationen erreich­t werden kann, wird von vielen Fachleuten in Frage gestellt. Entscheidend ist aber die rechtliche Problematik. Die Formulierungen des Gesetzes lassen einen beachtlichen Ermessensspielraum offen. Der Persönlichkeitsschutz ist nicht gewährleistet. Das Gesetz steht im Widerspruch zu anderen schweizerischen Gesetzgebungen (Strafrecht). Die Anordnungskompetenz durch Richter wurde aus dem Gesetz gestrichen. Der Anfangsverdacht, welcher eine Observation auslösen kann, ist zu vage gehalten. Ablehnung aus psycho-­sozialen Gründen langdauernder Erkrankungen wirken sich oft negativ auf das Selbst­wertgefühl aus und führen zu Schuld- und Insuffizienzgefühlen, auch in Bezug auf die Arbeitsfähigkeit. Die Konfrontation mit den Sozialversicherungen aktiviert diese negative psychische Dynamik; eine drohende Observierung hat das Potential, diese der Heilung entgegenwirkenden Kräfte zu fixieren. Viele der länger kranken Patienten müssen sich immer wieder mit abwertenden Kommentaren in der Umwelt auseinandersetzen (wie z.B. «Machst du jetzt auf IV?»). Anleitungen zur Denunzierung, wie sie auf IV-Homepages zu finden sind, geben Anlass, sich zurückzuziehen. Die drohenden Observationen boykot­tieren unsere Behandlungsbemühungen. Das Problem des Missbrauchs muss anders gelöst werden. Renten sollen die Existenz von chronisch kranken Personen sichern und ihre Lebens­qualität verbessern. In der Tat geht es manchen – nicht allen – dieser Menschen ­besser, wenn die finanziellen Sorgen weg­fallen. Diese Verbesserung ist meist nicht 
mit einer Verbesserung der Arbeitsfähigkeit verbunden. Sie können aber in ihrem Rahmen an sozialen Aktivitäten teilnehmen oder gar auch in einem beschränkten Rahmen mehr Verpflichtungen übernehmen. Was können wir als Ärzte tun? Das Referendumskomi-
tee ruft dazu auf, Gespräche zu führen. Ein ­Argumentarium findet sich auf der Homepage der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (FMPP), die das Gesetz ablehn­t (www.psychiatrie.ch). 
Das Abstimmungskomitee «versicherungs­spio­ne-nein» stellt Plakate und Flyer zur Verfügung.