Hundstage

Horizonte
Édition
2018/37
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.17068
Bull Med Suisses. 2018;99(37):1250

Affiliations
Dr. med. Mitglied der Redaktion

Publié le 12.09.2018

Mit einer ausserordentlichen Mondfinsternis und den Sternschnuppen der Perseiden neigt sich ein langer, heisser Sommer dem Herbst entgegen. Von vielen dummen, aufregenden oder belanglosen Schlagzeilen ist eine besonders haften geblieben. Vielleicht weil 
sie unterwegs auf dem Bildschirm eines Postautos, 
aus dem gewohnten Nachrichtensalat, als kaum überbietbare Absurdität hervorstach: Geburtenkontrolle im Weltall. 6300 Jahre wäre ein Raumschiff unterwegs zum nächsten Exoplaneten Proxima Centauri b. Es brauche klare Regeln bezüglich der Fortpflanzung an Bord. Gelesen haben es die wenigsten Ausflügler, verstanden hat es wohl niemand.
Wozu auch. Die Post fährt vom Bahnhof kurvenreich in die Taminaschlucht. Das Wasser hat seit der letzten Eiszeit am Fels gearbeitet. In die Vergangenheit gedachte 6000 Jahre wären etwa Halbzeit für diese unermüdliche Schleifarbeit. Die Dolmen von Stonehenge sind unberührter Stein, der Öztaler Eismann noch ferne Zukunft. Die Felsspalte wird enger, viele Wan­derer sind zu den heissen Quellen unterwegs, Mit ­Paracelsus’ Besuch der Thermen ginge die Reise der ­Astronauten zu Ende. Nur vier Lichtjahre ist das Ziel entfernt, doch Gedanken sind schneller als jedes imaginäre Triebwerk.
Ein dreifaches Sonnensystem mit einem roten Zwerg, umkreist von einem erdgrossen, vermutlich sterilen Steinklumpen. Die erwähnte Zeitdimension übersteigt unsere Vorstellungskraft. Interessanter ist die computerbasierte Annahme, dass 98 Passagiere, das heisst 
24 Paare, ausreichen sollen um eine genetisch stabile, gesunde Bevölkerung über eine fast unbeschränkte Zeit aufrecht zu erhalten. Zwei Astrophysiker haben es im Journal oft the British Interplanetary Society JBIS vorgerechnet. Eine Inputliste nennt Parameter wie Fruchtbarkeit, Alter, Menopause und Nachwuchs, selbst eine Katastrophe nach 2500 Jahren wird rechnerisch simuliert. Sie würde die Mannschaft um einen Drittel reduzieren.
Das 70-jährige Monatsblatt spielt eine anerkannte Vordenkerrolle für astronautische, visionäre Projekte. Die französischen Forscher titeln ihre Arbeit Computing the minimal crew for a multi-generational space travel towards Proxima Centauri b. Auch ohne ­Katastrophe und mit einer zehnfach schnelleren Arche ist es schwierig sich vorzustellen, dass die kleine Gemeinschaft gesund bleibt. Vielleicht dezimieren Wahnsinn, Magie und Totschlag die Crew. Eine Generation wird vergessen haben woher sie kommt und wohin die Reise gehen soll. Am Ende sind es allein die intelligenten Bordsysteme, die den künstlichen Kleinplaneten auf die Umlaufbahn eines fremden Trabanten steuern.
Astrophysische Fieberträume ersetzen das Loch-Ness-Ungeheuer. Als Spiel taugt selbst diese Zeitungsente, wenn man Zeiten und Räume mit der Verletzlichkeit des Menschen zusammendenkt. Nahziele bleiben der Mond und der Mars. Der Amazon-Chef will mit seiner Firma Blue Origin den Mond kolonisieren und Tesla Chef Elon Musk investiert in seine Raumfahrt-Firma SpaceX, um permanente Siedlungen auf dem Mars zu errichten. Von dort aus dürfte ein StarTrek- Unternehmen nach vielen Generationen gut adaptierter Marsianer auf ihre lange Reise starten.
Was geschieht inzwischen mit unserer Heimat Sol-3, der geplagten Erde? Am ersten August war für die Schweiz Erdüberlastungstag. Seither leben wir auf Pump, weil die natürlichen Ressourcen, die unser Lebensstil erfordert, verbraucht sind. Vermutlich hat keine Rede zum Nationalfeiertag diesen Umstand erwähnt. Einmal, so geht das Märchen, wird eine interstellare Expedition wieder die Erde anfliegen und dort den Garten Eden vorfinden, weil sich die Natur inzwischen vom Menschen erholt hat. Das wäre dann eine ganz neue ­Interpretation der Genesis. Oft gelangt man nur über Umwege ans Ziel.
erhard.taverna[at]saez.ch
Computing the minimal crew for a multi-generational space journey towards Proxima Centauri b. JBS, Februar 2018