Courrier / Communications
Sterbewunsch bei nicht tödlichen Krankheiten
Sterbewunsch bei nicht tödlichen Krankheiten
Brief zu: Widler J, Kohlbacher M. Suizid bei Krankheit. Schweiz Ärzteztg. 2018;99(30–31):971–2.
Sehr geehrte Herren
Ich danke Ihnen für das Aufgreifen dieses heissen Themas.
Obwohl als Rheumatologe tätig, bin ich in den letzten Jahren schon zweimal mit Sterbewünschen bei nicht tödlichen Krankheiten konfrontiert worden.
Auch meiner Ansicht nach ist – wie Sie auch aufführen – die Kontrollfunktion der Ärztinnen und Ärzte zentral (zur Vermeidung offensichtlicher oder auch weniger offensichtlicher Einflussnahme durch andere involvierte Personen [wie z.B. EXIT-Personen]) bzw. zur Sicherstellung, dass der Sterbewunsch auf freiem (möglichst unbeeinflusstem) und wohlerwogenem, über längere Zeit anhaltendem Willen des Betroffenen basiert (und nicht einer [vorübergehenden] depressiven Entwicklung).
Es ist für mich klar, dass die anerzogene und standesordentlich implementierte Lähmung der Ärzteschaft in dieser Frage negativ ist und den «weniger gehemmten» Akteuren das Feld überlässt.
Auch Ihre Ausführungen bezüglich Delegation der Kontrollpflicht von Seiten des Staates über die Rezeptausstellung an den jeweiligen Arzt sind wertvoll.
Dagegen ist bezüglich der zwar standesrechtlich festgelegten Maximen («menschliches Leben zu schützen, Gesundheit zu fördern und zu erhalten, Krankheiten zu behandeln, Leiden zu lindern und Sterbenden beizustehen») samt den von Ihnen gezogenen Schlussfolgerungen (… es darf nicht sein, mit der Verordnung einer tödlichen Dosis NaP dazu beizutragen, dass ein Leben beendet wird, das ansonsten infolge einer Krankheit oder Funktionseinschränkung nicht zum Ende führen würde …) zu entgegnen:
1. Die Standesordnung der FMH in Ehren. Aber die dabei unausgesprochene und ws. unbewusste Annahme war mit Sicherheit die, dass alle Menschen leben wollen, so gut es eben geht. Dass das (nicht zuletzt wegen den «Fortschritten» der Medizin, aber auch dem progredienten Älterwerden) heute nicht mehr immer gilt, entzog sich mit Sicherheit der Vorstellungskraft der damals Beteiligen. Auch noch heute haben Normalsterbliche, die noch nicht in einer ähnlichen Lebenssituation sind, grosse Mühe mit dem Gedanken, dass jemand das Leben beenden will, weil er einfach «lebensmüde» geworden ist. Ich nehme mich hier nicht aus. Oder anders ausgedrückt: es fehlt an Empathie für die Betroffenen (wahrscheinlich weil die eigene Angst vor dem Tode oder wenigstens vor einem religiösen oder rechtlichen Problem sie verunmöglicht).
2. Nimmt man die Betroffenen empathisch ebenso ernst wie den Entscheid des Europäischen Gerichtshofes und des Bundesgerichtes, so ist eine ärztliche Verweigerungshaltung, wie sie heute praktiziert wird, nicht mehr vertretbar.
3. Da jeder Mensch (Ärztin / jeder Arzt) sich mal irren kann, ist es sicher zwingend, einen Konsens (mehrerer Fachpersonen) zu fordern.
4. Die besten Resultate sind zu erwarten von (einer Gruppe mehrerer) Fachpersonen, die idealerweise die Betroffenen schon lange kennen, länger begleitet haben und in der Lage sind, die Urteilsfähigkeit zu bestätigen und larvierte depressive Zustände zu erkennen. Eine entfremdete Expertenkommission muss zwangsläufig schlechtere Resultate bringen.
5. In Afrika, könnte ich mir vorstellen, würde der grosse Rat aller Medizinmänner der Region um ein Lagerfeuer herum palavern und dann seine für den Stamm und die betroffene Person verbindliche Anweisung geben. Das wäre aus meiner Sicht die optimale Lösung.
6. Da es sich grundsätzlich um eine empathische Beurteilung handelt, sind alle Bemühungen, messtechnische Systeme hier einzusetzen, der falsche Weg und würden nicht nur zu einer Schein-Objektivität, sondern auch oft zu unbrauchbaren Resultaten führen.
7. CAVE: nicht jeder Sterbewunsch ist per se Zeichen für eine (behandlungsbedürftige?) Depression.
Gespannt auf eine lebhafte Diskussion grüsse ich Sie freundlich
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