Kritik an Suizidhilfe auf falschen Grundlagen

Briefe / Mitteilungen
Édition
2018/33
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.17001
Bull Med Suisses. 2018;99(33):1058-1059

Publié le 15.08.2018

Kritik an Suizidhilfe auf falschen Grundlagen

Zum Beitrag von Philippe Ducor und Bertrand Kiefer ist vorerst zu bemerken, dass die ­eingangs dargestellte theoretische Annahme, «… wenn jemand einem urteilsfähigen 17-jährigen Mädchen medizinische Suizidbeihilfe leisten würde, weil es seinem Leben wegen Liebeskummer ein Ende setzen möchte …», in sich bereits widersprüchlich ist: Wer aus ­Liebeskummer sein Leben beenden will, insbesondere wenn er erst 17 Jahre alt ist, der ist für diese Absicht mit Sicherheit nicht als urteilsfähig einzuschätzen. Der Beitrag geht ­somit schon zu Beginn von einer völlig verqueren Prämisse aus. Demzufolge kann diese Prämisse auch nicht den Grund darstellen, dass das Strafrecht durch das ärztliche Standesrecht ergänzt werden müsse, wie der Beitrag glauben machen will.
Dies ist allerdings nicht die einzige falsche Grundlage, auf welcher jener Beitrag beruht. Die zweite und wohl weit schwerwiegendere Falschbehauptung im Beitrag ist der Satz «Nach diesen [1] Richtlinien («Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende» der SAMW von 2004/2013) steht die medizinische Suizidbeihilfe nur dann im Einklang mit der Standesordnung, wenn ‘die Erkrankung des Patienten […] die Annahme [rechtfertigt], dass das Lebensende nahe ist’».
Es ist längst durch schweizerische Gerichte [2], sowie durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte [3], festgestellt worden, dass die damalige «Richtlinie» der SAMW ­keinerlei Vorschriften enthielt, die sich auf Personen bezogen hätten, die nicht unmittelbar vor ihrem natürlichen Tod standen, und dass der SAMW als privater Organisation ohnehin keinerlei entsprechende Rechtssetzungskompetenz zukommt. Bei den damaligen Richtlinien hatte die SAMW selbst in deren Einleitung deren Anwendungsbereich auf unmittelbar vor dem Tode stehende Personen beschränkt, was deren Anwendung auf andere Patientenkategorien – also solche, die nicht unmittelbar vor ihrem natürlichen Tode stehen – ausschloss. Zwar wähnten die SAMW und Funktionäre der FMH während vieler Jahre, mit jener Formulierung andere Patienten von medizinischer Suizidbeihilfe ausgeschlossen zu haben. Tatsächlich jedoch hat sie sich zu Fragen der Suizidhilfe durch Ärzte für Personen, die nicht unmittelbar vor ihrem natürlichen Ende stehen, überhaupt nicht geäussert. Die Gerichte haben dies in der Folge aufgeklärt. Die damaligen Richt­linien wurden eben nicht vorwiegend durch Juristen und Experten der Materie erstellt, sondern durch Ärztefunktionäre unter Einfluss eines nicht aus der Schweiz stammenden katholischen Moraltheologen.
Die Autoren vertreten auch die Auffassung, die neuen SAMW-Richtlinien «Umgang mit Sterben und Tod» dürften deswegen nicht in die Standesordnung der FMH aufgenommen werden, weil in diesen das «objektive Kriterium einer Krankheit» nicht mehr enthalten sei. Die Autoren kennen offensichtlich den Stand der gerichtlichen Beurteilung von ärztlicher Suizidhilfe in der Schweiz nicht. Das Schweizerische Bundesgericht hat im Jahre 2006 [4] festgehalten: «Zum Selbstbestimmungsrecht im Sinne von Art. 8 Ziff. 1 EMRK gehört auch das Recht, über Art und Zeitpunkt der Beendigung des eigenen Lebens 
zu entscheiden; dies zumindest, soweit der Betroffene in der Lage ist, seinen entsprechenden Willen frei zu bilden und danach zu ­handeln.». Dieser Kernsatz wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 2011 bestätigt. [5]
Wer somit solchen Personen dann, wenn sie nicht an einer binnen kurzem zum Tode führenden Krankheit leiden, ärztliche Suizidhilfe verweigern will, muss sich den Vorwurf ge­fallen lassen, unmenschlich zu handeln und somit – wenn es sich dabei um Ärzte handelt – gegen das Grundprinzip des Genfer Ärztegelöb­nisses zu verstossen, welches von Ärztinnen und Ärzten in erster Linie verlangt, sein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Denn durch diese Haltung verweisen sie solche Menschen auf gewaltsame, für sie selbst und Dritte risikoreiche Suizidmethoden und nehmen somit wissentlich und willentlich in Kauf, dass sich Menschen bei einem einsamen gescheiterten Suizidversuch schädigen. Wie dies mit der von den Autoren in Anspruch genommenen «Brüderlichkeit» zu vereinbaren ist, ist ebenso verquer und widersprüchlich.