Ein nicht zulässiges Zerrbild

Briefe / Mitteilungen
Édition
2018/33
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.06981
Bull Med Suisses. 2018;99(33):1057-1058

Publié le 15.08.2018

Ein nicht zulässiges Zerrbild

Philippe Ducor und Bertrand Kiefer zeichnen in ihrem Artikel ein nicht zulässiges Zerrbild der neuen SAMW-Richtlinien zum Umgang mit Sterben und Tod. Die Autonomie werde als «letztes Sakrament» oder «sakrosankter Grundsatz» verabsolutiert und auf «dem Altar des Grundsatzes der Autonomie werde die ­Objektivität und gemeinsame Subjektivität geopfert». Möglicherweise haben sie diese Richtlinien nicht aufmerksam gelesen, so sind ihnen doch wichtige Passagen offenbar entgangen. Bei den Grundsätzen auf Seite 6 ist wörtlich zu lesen:
«Zweitens ist die Selbstbestimmung der urteilsfähigen Patientin zu achten. Die Umsetzbarkeit selbstbestimmter Willensäusserungen kann allerdings durch die Rechte anderer, mitbetroffener Personen – seien dies Angehörige oder medizinische Fachpersonen – begrenzt werden.
Drittens müssen vulnerable Patientinnen, die sich mit Sterben und Tod auseinandersetzen, davor geschützt werden, dass von ihnen geäus­serte Wünsche unkritisch erfüllt werden, wenn Hinweise darauf bestehen, dass diese nicht ihrem aufgeklärten, freien und wohlüberlegten Willen entsprechen.»
Oder auf Seite 13:
«Ein falsch verstandener Vorrang der Patientenbedürfnisse vor denjenigen der Angehörigen kann zu deren Überforderung führen.»
Es kann keine Rede sein davon, dass hier die Autonomie über alle andern Bedürfnisse gestellt wird, vielmehr nehmen die Richtlinien auch Stellung zur schwierigen Rolle der Angehörigen und zeigen auf, wie diese unterstützt und entlastet werden können. Sie betonen die Wichtigkeit des Gespräches über Sterben und Tod als zentrales Element in der Behandlung und Betreuung von Patienten am Lebensende. Der Selbstbestimmung wird zwar ein hoher Stellenwert beigemessen, aber ebenso werden die Rechte mitbetroffener Personen hervorgehoben. Und die neuen Richtlinien sind nun wirklich alles andere als dogmatisch.
Als römisch-katholischer Theologe mag Ber­trand Kiefer der Autonomie einen anderen Stellenwert beimessen. Persönlich bin ich froh darum, dass die SAMW wie auch das Bundesgericht die Selbstbestimmung hoch gewichtet, jedoch auch deren Grenzen aufzeigt. Und dass die Deutungshoheit der Frage, wie viel Leiden noch als erträglich zu gelten hat, beim Patienten und nicht bei der katholischen Kirche liegt.
Fast etwas naiv und fern vom klinischen ­Alltag mutet folglich der Vorschlag an, Menschen mit Sterbewunsch in schweren, hoffnungslosen Leidenssituationen als Alternative mit «ein wenig menschlicher Brüderlichkeit» mehr Sinn zu geben. Patienten, die ernst ­genommen werden möchten, werden sich ­damit wohl kaum zufrieden geben.
Ein weiteres Zerrbild zeichnen die Autoren mit den «eifrigen Sterbebegleitern», die bei ambivalentem Sterbewunsch nicht nein sagen könnten, getrieben vom «sakrosankten Grundsatz der Autonomie». Ambivalenz des Sterbewunsches ist eine Kontraindikation für den assistierten Suizid, sie ist nicht mit dem Kriterium der Wohlerwogenheit zu vereinen.
Ich möchte allen empfehlen, die SAMW-Richtlinien im Originaltext zu lesen. Sie sind ausgewogen, durchdacht und vernünftig. Sie achten die Autonomie von Arzt, Angehörigen und ­Patient.