Mehrt Euch (nicht)

Horizonte
Édition
2018/35
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.06971
Bull Med Suisses. 2018;99(35):1161

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publié le 29.08.2018

«Mehrt euch und regt euch auf Erden, dass euer darauf viel werden», übersetzt die Lutherbibel. Noah hätte sich gewundert: Um 1800 betrug die Bevölkerungszahl global ungefähr eine Milliarde, in rund 120 Jahren hat sich diese Zahl verdoppelt, bis zur dritten Milliarde dauerte es 33 Jahre, von fünf auf sechs Milliarden nur noch zwölf Jahre. Als die UNO-Statistiker 1999 die Geburt des sechsmilliardsten Menschen für den 12. Oktober errechneten, titelte der Spiegel dieses Ereignis als «Die Geburt der Hoffnungslosen.» Millenio, so der fikti­ve Name des neuen Erdlings, würde mit 95% Gewissheit in einem Slum der dritten Welt geboren, ein bisschen Geld verdienen, eine Frau finden und möglichst viele Kinder gebären, die ihn versorgten. Thomas Malthus (1766–1844) sah zu seiner Zeit der Frühindustrialisierung keinen Ausweg aus der Bevölkerungsfalle. Doch die wichtigste Innovation, zur Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge, war 1912 die Stickstoffsynthese nach Haber und Bosch. Kunstdünger verhindert bis heute die vorausgesagte Hungerkatastrophe. Der Preis sind verseuchte Böden, vergiftete Gewässer und verschmutzte Luft. Mit Wachstum wird seit lan­ge­m Politik gemacht. Frankreich förderte gegen das übermächtige Deutschland die Familien, manche träume­n vom demographischen Dschihad, «Bumsen für Dänemark» sollte den Sozialstaat sichern, das Schrumpfen Europas schürt geopolitische Ängste.
Wachstum scheint auch hier der einzige Ausweg. Neue Erfindungen, bis hin zur Marskolonisierung, sollen es richten. Die Technikgläubigkeit ist ungebrochen. Können unsere Nachkommen in einer ausschliesslich künstlichen Umwelt leben, die mit der alten Welt nichts mehr gemeinsam hat? Und wie sähe diese aus? Es gibt darauf nur emotionale Antworten. Elternschaft, Rollenbilder und tiefsitzende Egoismen sind übermächtig. Der Verstand registriert die ungebremsten Zerstörungen, die unsere Lebensweise zur Folge hat. Er weiss, dass die Lebensgewohnheiten der Mehrheit sich nicht freiwillig ändern, er weiss, dass Verluste der Bevölkerung durch bisherige Epidemien und Kriege immer sehr schnell durch eine gesteigerte Geburtenrate ausgeglichen wurden.
Die europäischen Antinatalisten sehen sich als Vertreter der Voluntary Human Extinction Movement, VHEMT, einer Bewegung, die in den USA gegründet wurde. Ihre Devise ist: «Mögen wir lange gut leben – und aussterben.» Die Menschen sollen freiwillig aufhören, sich zu vermehren. Auf viele Fragen gibt die Homepage ausführlich Antwort. Der belgische Philosoph Théophile de Giraud hat 2009 das Fête des Non-Parents gegründet. Wie die Organisation No Kidding will es kinderlosen Paaren zu einem sinnvollen Leben ohne Kinder ver­helfen. Es ist sozusagen der Gegenpol zur reproduk­tiven Medizin, die auf Teufel komm raus Kinder­wünsche erfüllt. Wenn es so weitergeht, sind wir, trotz sinkender Fertilität, Ende Jahrhundert zehn oder zwölf Milliarden mit Ansprü­chen, die für die Mehrheit unerreichbar bleiben. Giraud zufolge geht es auch darum, un­ausweichliches, zukünftiges Leid zu vermeiden. Seine Schrumpfungsphantasien rufen zahlreiche Gegner auf den Plan. Der Schriftsteller wird mit Hassmails eingedeckt. Viele wollen im jährlichen Lebend­überschuss von rund 80 Millionen Menschen kein Problem erkennen. Meist wird er als Atheist, Rassist und Nationalist beschimpft. Doch das Thema bleibt virulent. Der Bestsellerautor Dan Brown beschreibt in seinem Roman Inferno einen Schweizer Biochemiker, der mit seiner Entdeckung die Fruchtbarkeit der ganzen Menschheit irreversibel beenden will. Viele­s, was Transhumanisten an künstlicher Intelligenz für ein Nach-Anthropozän ausdenken, ist unterschwellig menschenverachtend. Ein kruder Vulgär­darwinismus, der in einer imaginären Maschinenwelt die nächstfolgende Evolutionsstufe erkennen will. Wer heute Kinder und Enkel hat, wünscht diesen ein wie auch immer erträgliches Leben in Würde und Freiheit, auch wenn er tiefe Zweifel daran hat, dass diese Hoffnung in Erfüllung geht.
erhard.taverna[at]saez.ch