Zu den Rahmenbedingungen ärztlicher Tätigkeit*

Tribüne
Édition
2018/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.06911
Bull Med Suisses. 2018;99(38):1293-1294

Affiliations
Dr. med., Chefarzt Gastroenterologie, Kantonssspital Baden, Mitglied FMH

Publié le 19.09.2018

Der Ärztestand geht schwierigen Zeiten entgegen. Die Bedrohung ist insofern existentiell, als das klassische Bild eines freien Berufes Auflösungserscheinungen zeigt. Der Autor skizziert in diesem Beitrag die aus seiner Sicht zentralen Problemfelder.
Welches sind denn die Herausforderungen? Die gros­sen Gefahren drohen in den Bereichen Unabhängigkeit und damit Ethik. Sie sind untrennbar mit dem ärztlichen Selbstverständnis und den Arbeitsbedingungen verknüpft. Warum haben denn überdurchschnittlich begabte Personen es für sinnvoll gehalten, während Jahrzehnten ihre sämtlichen Kräfte mit Ausnahme der unbedingt notwendigen Erholung in den Dienst der Medizin und damit der Patienten zu stellen? Es hat sich offensichtlich gelohnt. Man erhielt reichlich Anerkennung, sei es von Patienten als auch gesellschaftlich oder insbesondere von Spitalverwaltungen. Ein hohes Mass an professioneller Autonomie und ­Gestaltungsfreiheit war selbstverständlich, ebenso komfortabler Wohlstand. Wer allerdings märchenhaften Reichtum suchte, wurde stets eher als Investmentbanker, Immobilienspekulant, Rockstar oder – im produktivsten Fall – Unternehmer glücklich.

Résumé

Le corps médical s’apprête à traverser une période difficile. La menace est existentielle dans le sens où l’image classique d’une profession libérale présente des signes de dissolution. Dans cet article, l’auteur décrit ce qu’il considère comme les principaux problèmes.
Mittlerweile können wir die Rahmenbedingungen ­unserer Tätigkeit kaum mehr mitbestimmen – sie werden auf politischer Ebene im meist ungünstigen Sinne festgelegt, typischerweise mit Begründungen wie Kostenneutralität oder Qualitätssicherung. Kann denn ­jemand besser beurteilen als der Ärztestand, wie man preisgünstig qualitativ gute Medizin betreibt? Dass ­unter den herrschenden Bedingungen der Kunde – Pardon «Patient» – nicht an einem guten Preis-­Leistungs-Verhältnis interessiert ist, ignorieren die ­Entscheidungsträger geflissentlich. Sie nutzen die Tatsache der hohen Einstiegs- und Ausstiegskosten im Arztberuf aus. Das heisst, unsere kurzfristigen Reak­tionsmöglichkeiten auf Regeländerungen während des Spiels sind beschränkt. Es dauert oft Jahrzehnte bis die Folgen sichtbar werden. Beispielhaft ist die Misere im Bereich der Grundversorger, die dafür Verantwortlichen dagegen sind schon längst vergessen.
Die traditionelle auf Leistung ausgerichtete ärztliche Grundhaltung war noch in den 80er Jahren selbstverständlich. Sie führt im Laufe eines 40 Jahre dauernden Arbeitslebens zu einem grossen Arbeitsvolumen bei schon in jüngeren Jahren reichlich vorhandenem Erfahrungsschatz. Tatsächlich droht sie aber mit der demnächst in Pension gehenden Ärztegeneration zu verschwinden und mehrheitlich durch das ersetzt zu werden, was ich den «ärztlichen Sachbearbeiter» nenne.
Welche Kräfte stecken dahinter? Da ist zunächst der nicht zu beeinflussende Zeitgeist. Wir werden gerade­zu aufgerufen, möglichst hedonistisch zu leben, dementsprechend ist es nicht im Lebensplan vorgesehen, sich einer grossen Aufgabe zu widmen und dafür Opfer zu bringen.
Es sind weitere Faktoren im Spiel. Der Wunsch nach Teilzeitarbeit – besonders prävalent bei einem hohen Frauenanteil – spielt eine Rolle. Als logische Konsequenz müssen sehr viel mehr Personen zu Ärzten ausgebildet werden, müssen mehr Ärzte die für Patienten nicht nur vorteilhaften Lernkurven durchlaufen, wobei die Lernkurven weniger steil sind oder sogar frühzeitig einen Plafond erreichen. Ob es uns passt oder nicht: Höchstleistung und Teilzeit sind unvereinbare Gegensätze – nicht nur in der Medizin.
Bezüglich Anerkennung unserer Leistungen waren die Zeiten schon besser. Spitalverwaltungen erringen immer mehr Macht. Unsere einzige Chance mitzuhalten besteht darin, durch kompromisslosen Einsatz über viele Jahre eine umfassende Erfahrung und Autorität zu erarbeiten, die nicht übergangen werden können.
Ganz grosse Gefahren lauern dort, wo Ärzte für ärzt­liche Tätigkeiten von «for profit»-Unternehmen angestellt werden. Wie da ärztliche Autonomie und Ethik aufrechterhalten werden sollen, ist nicht befriedigend zu erklären. Solches war früher richtigerweise aus ­genau diesen Gründen nicht zulässig, ebenso die ­Werbung für ärztliche Tätigkeit. Diese wirkt zudem in einem Markt, wo der «Kunde» bestellen kann, ohne an die Kosten zu denken, als hocheffizienter Brand­beschleuniger.
In den öffentlichen Spitälern ist die Abschaffung der individuellen Honorare für Chefärzte weitgehende Tatsache. Die Forderung nach deren Abschaffung im ambulanten Bereich sehe ich schon am Horizont. «Fee for Service» hat bekannte Nachteile – aber derent­wegen ein über Jahrhunderte bewährtes Modell abzuschaffen ist unbedacht. Vor allem bietet das Honorar dem Patienten die vielleicht wirksamste Möglichkeit zur Erzielung eines annähernden Gleichgewichts der Kräfte. Dank Honorar wird aus dem lästigen Bittsteller ein hochwillkommener «Gast». Es ist für die Motivation der jungen Kolleginnen und Kollegen von grösster Wichtigkeit zu sehen, wie die Vor­gesetzten sich unermüdlich mit Enthusiasmus der Patien­tenversorgung widmen. Stattdessen erwarte ich innert weniger Jahre eine ausgiebige Teilnahme an Sitzungen und Gesprächen in Erfüllung von Führungsaufgaben. Andere werden wieder – wie früher üblich –nebenbei in Privatkliniken tätig sein
Das ist nicht alles. Manch einer wird sich nicht lange abmühen wollen, komplexe Tätigkeiten zu erlernen, wenn per Dekret Berset alle ärztlichen Tätigkeiten gleichwertig sind. Diese Nivellierung nach unten ist ganz einfach falsch. Spätestens wenn Herr Berset einen operativen Eingriff benötigt, wird er sehr rasch Verständnis dafür entwickeln, dass die Honorare für Blutdruckmessen und Kolonresektion schon rein intuitiv weit divergieren müssten. Dafür sprechen ganz rationale Gründe. Die komplikationsarme Durchführung von Dickdarmoperationen zu erlernen und diese Fähigkeit zu erhalten ist Höchstleistung – wie im Spitzensport. Ob ein Honorar angemessen ist, kann man auch daran abschätzen, welchen Einfluss die Massnahme auf das weitere Schicksal des Patienten hat und was ein durch sie verhindertes unerwünschtes Ereignis kostet. In dieser Betrachtung dürfte der Unterschied zwischen Kolonresektion und Blutdruckmessung schon deutlich schrumpfen. Damit man mich richtig versteht: Grundversorger zum Beispiel, die mit breiter Ausbildung als Dorfärzte amten und für ihre Patienten mehr oder weniger rund um die Uhr verfügbar sind, erbringen ebenfalls Höchstleistungen, die zu honorieren sind.
Was tun? Wer gegen Windmühlen ins Feld zieht, gibt sich der Lächerlichkeit preis. Wir brauchen aber unverzichtbar von einem Teil des ärztlichen Personals über Jahrzehnte maximalen Einsatz in der Patientenversorgung. Ohne sie wird der Karren im Sumpf steckenbleiben. Wenn es gelingt, wenigstens ihnen, die sich ein Leben lang kompromisslos der Medizin verschreiben, adäquate Bedingungen im Sinne von Anerkennung, Autonomie und Honorar zu erhalten, wäre schon einiges erreicht. Ausserdem gehört meiner Meinung nach angestellte ärztliche Tätigkeit zu Gunsten von «for ­profit»-Firmen verboten, da in dieser Situation keine Gewähr dafür besteht, dass die Interessen des Patienten prioritär bleiben – eher das Gegenteil. Ebenso verboten gehört die Werbung für ärztliche Handlungen.
Franz.Eigenmann[at]ksb.ch