Leben ist mehr als molekulare Prozesse

Briefe / Mitteilungen
Édition
2018/24
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.06838
Bull Med Suisses. 2018;99(24):796-797

Publié le 13.06.2018

Leben ist mehr als molekulare Prozesse

Die Unterscheidung «Körper (Materie im ­weitesten Sinn) / Geist» ist mir zu stark vom griechischen Denken geprägt. Ich möchte sie ersetzen durch «Körper (tote Materie) / lebendige Person (Leben)». Leben ist unauflöslich an ­Materie gebunden. Es gibt keine mensch­liche Lebensäusserung, auch keine seelische oder geistige, die nicht eine materielle, molekulare Grundlage hat. Materielles darf nicht gegenüber sog. «Geistigem» verachtet werden. Leben ist abhängig von einer materiellen Voraussetzung. Dieser «Materialismus» ist auch der Grund für den Siegeszug der Naturwissenschaften in Technik und Medizin.
Seit Darwin glauben die meisten Wissenschaftler und breite Volksschichten, dass Leben durch Mutation und Selektion in Jahrtausenden entstanden ist. Das heisst, dass Leben durch Zufall, durch blinde Naturgesetze ohne Plan und Sinn entstanden ist und eben ­ausschliesslich aus den oben erwähnten materiellen Vorgängen besteht. Es ist nichts Geistiges. Die Naturwissenschaft hat die Evolu­tionslehre dankbar zur Kenntnis genommen. Denn methodisch klammert die Naturwissenschaft die Sinnfrage auch aus. Das hat sich übrigens für die Fragestellungen in ihrem ­Bereich sehr bewährt.
Für mich ist klar, dass Leben mehr ist als ­molekulare Prozesse. Was ist dieses «Mehr»? Es hat viele Schichten. Wichtige Aspekte sind ­Familie, Reproduktion, Beziehungen, Freundschaften, Gesellschaft, sinnvolle Aktivitäten, Kreativität, Umgang mit Freude, mit Krankheit, mit Leid, mit Tod. Gerade die Fragen um Schicksal, Schuld, Verantwortung leiten in eine weitere «transzendente» Dimension. «Woher komme ich?» «Was tue ich hier?» «Wohin gehe ich nach dem Tod?» Diese Fragen sind extrem menschlich, nur dem Menschen eigen. Dahinter ist die Frage nach Gott. Auch wenn sie heute im Westen aus dem öffentlichen Raum verdrängt, ja allgemein tabuisiert ist, die Frage nach dem Schöpfer gehört wesentlich zum Menschenbild.
Die Agnostiker melden sich hier: Es gibt kein sicheres Wissen über die Transzendenz. Ja, und trotzdem müssen wir Stellung beziehen. Ich kann mich letztlich von dieser Verantwortung nicht dispensieren. Ich vermute, dass viele diese Entscheidung nicht bewusst überdenken und vollziehen. Wir schwimmen im breiten Strom der Aufklärung und des Postmodernismus. Der Westen ist Gott-los geworden. An die Stelle eines personalen Gottes, der mir ein Gegenüber ist und mit dem ich eine Beziehung aufbauen kann, sind unpersön­liche «Werte», Menschenwerte oder Welt­anschauungen getreten. Wir haben uns von der Suche nach Gott sehr leichtfertig dis­pensiert. Die Religionen mit ihrem Versagen ­haben es uns leicht gemacht. Zu einer Suche nach Gott einige Stichworte: Animismus? – ich bleibe im Gefängnis meiner Vorstellungen gefangen; polytheistische Religionen? – Beliebigkeit, ­Eklektismus; monotheistische Reli­gionen? ­Islam – die Gewaltfrage; Christentum? – «Sie sollten mir erlöster aussehen».
Ich plädiere dafür, zu den Grunddokumenten, den Quellen zurückzugehen. Für mich be­ansprucht bei der Gottsuche Jesus Christus ­einen besonderen Platz und Intensität. Diese Gestalt, geschichtlich, aber auch im Licht von Transzendenz, verdient mit ihrer Botschaft und ihrem Anspruch besondere Aufmerksam­keit.
Könnte das neue Menschenbild einem persönlichen Gott wieder den Platz geben, wie er ihn schon seit Jahrhunderten hatte, allerdings jetzt auf einer höheren Ebene? Und wie könnte das praktisch aussehen?