Eine Professur für Palliativmedizin in der Radio-Onkologie?

Tribüne
Édition
2018/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.06614
Bull Med Suisses. 2018;99(17):553-554

Affiliations
Prof. Dr., Lehrstuhl für Palliativmedizin, Universität Lausanne

Publié le 25.04.2018

Am Universitätsspital Zürich (USZ) wurde Ende Februar 2018 eine Assistenzpro­fessur für Palliativmedizin am Lehrstuhl für Radio-Onkologie ausgeschrieben. ­Professor Dr. Gian Domenico Borasio, Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Universität Lausanne, beurteilt dieses Vorhaben trotz aller guten Motivation kritisch und erläutert in diesem Artikel die Gründe für seine Sichtweise.

Entwicklung der Palliativmedizin seit einigen Jahren sehr positiv

Die Palliativmedizin hat sich in den letzten Jahren in der Schweiz sehr erfreulich entwickelt. Seit 2012 sind palliativmedizinische Lehrinhalte verpflichtender Bestandteil des universitären Curriculums für Medizinstudenten geworden. Das SIWF erkennt seit 2016 den interdisziplinären Schwerpunkt Palliativmedizin an, der Kolleginnen und Kollegen aus allen klinischen Fachgebieten die Möglichkeit einer Weiterbildung zum Spezialisten für Palliativmedizin eröffnet. Auch in der Forschung hat es wesentliche Fortschritte gegeben: nach dem 2012 gestarteten nationalen Forschungsprogramm «Lebensende» des SNF hat die SAMW 2014 ein eigenes, stiftungsfinanziertes Forschungsprogramm «Palliative Care» ins Leben gerufen, das noch bis 2018 fortgeführt wird. Im Mai dieses Jahres wird der Forschungskongress der Europäischen Palliativgesellschaft (EAPC) zum ersten Mal in der Schweiz (Bern) ­tagen.

Immer mehr Professuren für Palliativ­medizin an den Universitäten

Entsprechend dynamisch hat sich auch die akademische Repräsentation der Palliativmedizin entwickelt. Existierte bis 2015 nur ein Lehrstuhl für Palliativmedizin in Lausanne, so gibt es heute in der Schweiz vier Professuren für Palliativmedizin (zwei in Lausanne, je eine in Genf und Bern). Am Universitätsspital Zürich besteht seit 2012 ein Kompetenzzentrum Palliative Care, das vom ehemaligen Leiter der Zürcher Radio-Onkologie, Prof. Martin Lütolf, gegründet und seiner Klinik angegliedert wurde. Ende Februar 2018 wurde am USZ eine stiftungsfinanzierte Assistenzprofessur für Palliativmedizin am Lehrstuhl für Radio-Onkologie ausgeschrieben. Hierzu ist aus fachlicher Sicht Folgendes anzumerken:
– Aus vorwiegend historischen Gründen wurden bisher hauptsächlich onkologische Patienten von der Palliative Care betreut. Allerdings sterben schon heute in der Schweiz 74% der Menschen nicht an ­einer Krebs­erkrankung. Die demografische Entwicklung und die fortschreitende Überalterung der Bevölkerungbringen es mit sich, dass die Palliativpatienten der Zukunft ganz andere sein werden als bisher. Die Sterbenden der Zukunft werden zum ­allergrössten Teil sehr alt, sehr fragil, multimorbid und häufig dement sein. Eine onkologische Erkrankung, soweit vorhanden, spielt bei diesen Patienten oft die geringere Rolle. Notwendig ist es ­daher, die Palliative Care für die Zukunft so aufzustellen, dass sie der grösstmöglichen Anzahl der Patienten zu­gutekommen kann.
– Die Angliederung einer Professur für Palliativmedizin an einen Lehrstuhl für Radio-Onkologie macht diesbezüglich aus fachlicher Sicht keinen Sinn. Ist schon die Anbindung von Palliativprofessuren an onkologische Lehrstühle aus den oben genannten Gründen als suboptimal zu betrachten, so ist es die Anbindung an eine Subspezialität wie die Radio-Onkologie, die nur einen Teil der onkologisch erkrankten Patienten betreut, umso mehr.
– Die organisatorische Anbindung der geplanten Zürcher Professur birgt auch eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die studentische Lehre. Wenn Lehrveranstaltungen zum Thema Palliativmedizin unter dem Label «Radio-Onkologie» stattfinden, kann dies bei den Medizinstudierenden den Eindruck verfestigen, Palliative Care sei nur für Krebspa­tienten da.
– Die Palliativmedizin stellt dem Medizinsystem mit­unter unbequeme Fragen, wie zum Beispiel: «Ist wirklich alles sinnvoll, bloss weil es machbar ist?» Diese Frage betrifft insbesondere auch Krebstherapien am Lebensende. Auch wenn es von der Universität Zürich sicher nicht so beabsichtigt ist, besteht die ­Gefahr, dass eine abhängige Stellung der Professur in einem onkologischen Therapiebereich die Möglichkeit der Pal­liativmedizin, solche unbequeme Fragen zu stellen, ­signifikant ­verringert und die Disziplin ­somit gewissermassen «domestiziert» wird.

Résumé

Zusammenfassend lässt sich aus fachlicher Sicht das Vorhaben der Universität Zürich trotz aller guten Motivation nur wie folgt beurteilen:
– Für die Entwicklung der Palliativmedizin zu einem umfassenden, für wirklich alle Patienten und ihre Familien zur Verfügung stehenden Fachgebiet, braucht die Disziplin dringend eine akademische und kli­nische Selbstständigkeit, gerade an Universitäts­klinika. Diesem Grundprinzip läuft die geplante Professur an der Universität Zürich diametral zu­wider.
– Aus den o.g. Gründen besteht daher die konkrete Gefahr, dass eine von grossem Engagement geprägte ­finanzielle Unterstützung durch eine gemeinnützige Stiftung der notwendigen Weiterentwicklung der Schweizer Palliativmedizin nicht nur nicht nützen, sondern – insbesondere in Anbetracht der führenden Rolle der ­Zürcher Universitätsmedizin – nachhaltig schaden könnte.
Daher ist die Entwicklung an der Universität Zürich aus fachlicher Sicht sehr zu bedauern. Es wäre wünschenswert, dass die Universitätsgremien neue Beratungen in diesem Geschäft aufnehmen. Eine klinisch wie akademisch unabhängige Professur für Palliativmedizin an der Universität Zürich wäre ein wichtiges Zeichen für die Zukunft des Fachgebietes und damit für eine gute Versorgung aller schwerstkranken Patienten und ihrer Familien in der letzten Lebensphase.
Prof. Dr. Gian
Domenico Borasio
Lehrstuhl für Palliativ-
medizin
Universität Lausanne
Centre Hospitalier
Universitaire Vaudois
Av. Pierre Decker 5
CH-1011 Lausanne
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