Handhabung von Komplexität

Lean Hospital als Orchestrierung reflexiver Gestaltungspraktiken zur Handhabung von Komplexität

Tribüne
Édition
2018/18
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.06363
Bull Med Suisses. 2018;99(18):06363

Affiliations
a Universität St. Gallen, Institut für Systemisches Management und Public Governance

Publié le 01.05.2018

«Wir müssen anders denken, anders arbeiten und anders führen.» So fasst der chirurgische Leiter der Notfallstation seine bisherigen Erfahrungen mit der Einführung von Lean Hospital zusammen. Das «anders führen» meint, die Mitarbeitenden und Schnittstellenpartner strukturiert und wiederholt in die weitere Entwicklung der Behandlungsprozesse (Wertschöpfung) und der gelebten Entscheidungspraxis (Führung und Zusammenarbeit) einzubinden. In unserem Praxisbeispiel im zweiten Beitrag ging es dabei um vier unterschiedliche Schwerpunkte von reflexiven Gestaltungspraktiken: Alltagskoordination, Kooperationen, Zukunftsgestaltung und die Management-Praxis selbst (s. Beitrag 2 [1]).

Résumé

Le second article sur l’introduction du lean hospital illustrait les clés du succès identifiées dans le premier: en même temps que des pratiques lean pour la création de plus-value axée sur le patient, il convient de mettre au point des pratiques de configuration réflexives afin d’optimiser la direction et la collaboration. Ces dernières servent à remettre régulièrement en question les habitudes décisionnelles personnelles. Ces nouvelles pratiques de configuration réflexives entraînent toutefois une forte hausse du besoin déjà élevé de décisions. C’est pourquoi ce troisième article se concentre sur une synergie favorable de ces pratiques de configuration réflexives en prenant l’exemple du service d’urgence. Son orchestration est une mission essentielle de la direction. Au service d’urgence, elle est obtenue grâce à des caractéristiques structurantes des pratiques de configuration réflexives et par le biais du cercle de direction.
Abbildung 1: Schematische Verknüpfung der reflexiven Gestaltungspraktiken.
Wenn die Einrichtung reflexiver Gestaltungspraktiken gelingt, dann stellt sich die folgende Frage, um die es in diesem dritten Beitrag geht: Wie kann die Leitung der Notfallstation mit den sich ergebenden Verbesserungsmöglichkeiten zu den Behandlungsprozessen, zu den Kooperationen, zur Entscheidungspraxis in der Abteilung und zu deren weiteren Entwicklung umgehen? Die Etablierung von reflexiven Gestaltungspraktiken führt zu einer höheren Sichtbarkeit von anstehenden Entscheidungen. Im Angesicht ihrer knappen Zeit stellt sich für die Leitungspersonen der Notfallstation die Herausforderung, die weitere Bearbeitung der Verbesserungsvorschläge systematisch, strukturiert und transparent zu organisieren. Sonst droht die bittere Einsicht der Mitarbeitenden, dass sich ja letztlich sowieso nichts ändere und mal wieder nur eine weitere ‘Management-Sau durchs Dorf getrieben werde’.
Deshalb braucht es eine systematische Vernetzung der unterschiedlichen reflexiven Gestaltungspraktiken, um die vielfältigen Verbesserungsvorschläge kanalisieren, priorisieren und weiterbearbeiten zu können. Graphisch stehen die vier thematischen Schwerpunkte der reflexiven Gestaltungspraktiken dann nicht mehr nebeneinander (s. Beitrag 2 [1]), sondern in einer wechselseitigen Beziehung:
Im folgenden Beispiel der Notfallstation lässt sich diese systematische Verknüpfung der unterschiedlichen reflexiven Gestaltungspraktiken erläutern. Dabei wird diese Orchestrierung auf der Notfallstation einerseits anhand von Strukturierungsmerkmalen der reflexiven Gestaltungspraktiken und andererseits über den sogenannten Managementzirkel realisiert.

Drei Strukturierungsmerkmale zur ­Orchestrierung der reflexiven ­Gestaltungspraktiken

Die folgende Tabelle (s. Beitrag 2 [1]) zeigt die Strukturierung der reflexiven Gestaltungspraktiken der Notfallstation nach Inhalt (Was?), zeitlichem Rhythmus (Wann?) und nach den Beteiligten (Wer?):
Tabelle 1: Lean Hospital als Repertoire (ausgewählter) reflexiver Gestaltungspraktiken.
Diese Tabelle führt einige der reflexiven Gestaltungspraktiken auf, die neben den klassischen Lean-Prak­tiken die Implementierung von Lean Hospital auf der Notfallstation strukturiert flankieren. Die Klärung, was, wann und von wem bearbeitet wird, fördert die Erwartbarkeit, was wiederum für die Orchestrierung der refle­xiven Gestaltungspraktiken wichtig ist. Diese Erwartbarkeit hilft, den Alltagsbetrieb der Notfallstation bei seiner gleichzeitigen Weiterentwicklung zu stabilisieren.
Die thematische Ausrichtung (s. «Was?»-Spalte in der Tabelle) spiegelt die vier Schwerpunkte von reflexiven Gestaltungspraktiken wider. So werden beispielsweise die künftige Entwicklung und die Management-Praxis der Notfallstation an der Strategieklausur der Notfallstation thematisiert oder in den Teamentwicklungsmassnahmen. Der Alltagskoordination und somit der Reflexion der Behandlungsprozesse (Wertschöpfung) dient beispielsweise die veränderte Reaktivierung des CIRS. Das gleiche Thema erscheint auch regelmässig im Managementzirkel und in Arbeitsgruppen, die der weiteren Optimierung der Abläufe in bestimmten Teilbereichen dienen. Gleichzeitig werden in diesen beiden reflexiven Gestaltungspraktiken auch die Management-Praxis der Notfallstation und die Kooperationen mit anderen Abteilungen hinterfragt, wozu je nach Thema die Partner vertreten sind. Die inhaltliche Fokussierung der unterschied­lichen reflexiven Gestaltungspraktiken nach Themen schafft Orientierung bei allen Beteiligten und hilft so bei der systematischen Vernetzung. Die Unterscheidung der thematischen Ausrichtung der jewei­ligen reflexiven Gestaltungspraktiken vermeidet auch das Risi­ko, dass vor allem Fragen nach der alltäglichen Entscheidungspraxis (Reflexion der Führung und Zusammenarbeit) im Zuge eines oft sehr absorbierenden Behandlungsalltags auf der Strecke bleiben.
Der zeitliche Rhythmus ist ein zweites Strukturierungsmerkmal zur Orchestrierung der reflexiven Gestaltungspraktiken (s. «Wann?»-Spalte in der Tabelle). Einige reflexive Gestaltungspraktiken finden fortlaufend statt (s. Reaktivierung des CIRS), andere regelmässig jede Woche oder alle zwei Wochen (z.B. Etablierung von Arbeitsgruppen oder Managementzirkel), regelmässig in längeren Abständen (z.B. Strategieklausur Notfallstation) und wieder andere einmalig (z.B. Mitarbeiterworkshop «Auf zu neuen Ufern»). Prinzipiell scheint ein dichter Arbeitsalltag eine entsprechend häufigere Reflexion der Wertschöpfung zu erfordern (reflexive Gestaltungspraktiken der Alltagskoordination), während reflexive Gestaltungspraktiken zur Praxis der Führung und Zusammenarbeit auf der Notfallstation in einem grösseren zeitlichen Rhythmus stattfinden. Diese zeitlich auf den thematischen Schwerpunkt abgestimmte Rhythmik ist Teil der Orchestrierung der unterschiedlichen reflexiven Gestaltungspraktiken.
Ein drittes Strukturierungsmerkmal zur Orchestrierung der reflexiven Gestaltungspraktiken ist die Klärung der Beteiligten (s. «Wer?»-Spalte in der Tabelle). Entsprechend sind die am Patientenprozess Beteiligten auch Teil der reflexiven Gestaltungspraktiken zur Alltagskoordination (z.B. Gemba-Walks und Umsetzungsworkshops). Die Entwicklung der Management-Praxis sowie der Notfallstation als Ganzes betrifft vor allem die Leitungspersonen (z.B. Strategieklausur der Notfallstation). Zu diesen Fragestellungen werden zudem – je nach Thema – Gäste aus der eigenen Abteilung oder von anderen Kliniken, ­Abteilungen oder der Spitalleitung einbezogen. Zu­sammengefasst zielt die Beteiligung an reflexiven ­Gestaltungspraktiken darauf ab, die für ein Thema notwendige Fachexpertise der Notfallstation systematisch zu mobilisieren. Zudem fördert eine nach der Expertise strukturierte Beteiligung die Legitimation von Entscheidungen und deren Umsetzung. So werden die unterschiedlichen reflexiven Gestaltungspraktiken auch anhand ihrer Beteiligten systematisch vernetzt.
Die drei Strukturierungsmerkmale (Inhalt, zeitlicher Rhythmus und Beteiligte) unterstützen die Orchestrierung der unterschiedlichen reflexiven Gestaltungspraktiken, welche eine wesentliche Managementaufgabe auf der Notfallstation darstellt. Sie fördern die Klärung, welche Themen durch welche reflexiven Gestaltungspraktiken von wem und wann bearbeitet werden. Diese Klärung kann gleichzeitig entlastend für das Management wirken, wenn man aufgrund dieses Wissens nicht mehr überall teilnehmen muss, weil man weiss, wo was von wem bearbeitet wird.

Die Orchestrierung der reflexiven ­Gestaltungspraktiken über den Managementzirkel der Notfallstation

Neben dieser Strukturierung ist der Managementzirkel der Notfallstation bei der systematischen Vernetzung der verschiedenen reflexiven Gestaltungspraktiken zentral. Der Managementzirkel der Notfallstation tagt alle zwei Wochen für etwa zwei Stunden. Hier tauscht sich das interdisziplinäre Notfallstation-Leitungsteam (Medizin, Chirurgie, Pflege) regelmässig zur Alltagspraxis ausgerichtet auf die Patientenbehandlung (Wertschöpfung) sowie zur Entwicklung einer reflexionsfreundlichen Praxis der Führung und Zusammenarbeit (Entscheidungspraxis) aus.
Im Managementzirkel erfolgt die Verknüpfung anderer reflexiver Gestaltungspraktiken erstens über die zentrale Koordination von Themen, zweitens über eine systematische und kommunizierte Dokumentation und drittens über den persönlichen Austausch von Leitenden der Notfallstation mit den Mitarbeitenden sowie mit den internen und externen Kooperationspartnern:
Die systematische Vernetzung über die Koordination der Themen erfolgt zum einen über den Leiter der Notfallstation, der die jeweilige Agenda zusammenstellt. Mitarbeitende der Notfallstation können dazu ihre Anliegen über ein Formular einreichen (mit Name des Antragstellers, Pro­blemstellung, Antrag, Zielsetzung, dem persönlichen Beitrag und Kosten), genauso wie die Mitglieder des ­Managementzirkels und die Kooperationspartner der Notfallstation (z.B. Intensivstation, Anästhesie, Radiologie). Dar­über informieren auch die Arbeitsgruppen über den Stand ihrer Arbeit oder fordern dringende Entscheidungen ein. Das Antragsformular verknüpft so beispielsweise die reflexive Gestaltungspraktik der Etablierung von Arbeitsgruppen (s. Tabelle) kommunikativ mit dem Managementzirkel. Daneben haben sich Dauertraktanden im Managementzirkel herausgebildet wie zum Beispiel eine Prüfung der aktuellen und durch den stellvertretenden Leiter der Notfallstation priorisierten CIRS-Meldungen alle zwei Monate. Dadurch ist die reflexive Gestaltungspraktik der Reaktivierung des CIRS (s. Tabelle) an den Managementzirkel gekoppelt. Auch die Strategieklausur Notfallstation (s. Tabelle) wird im Sinne eines Dauertraktandums mit dem Fokus der Weiterentwicklung der Führung und Zusammenarbeit auf der Notfallstation zweimal im Jahr im Managementzirkel geplant, vorbereitet und nachbereitet.
Zum anderen erfolgt die kommunikative Verknüpfung über eine systematische Dokumentation. Das Protokoll des Managementzirkels wird während der Sitzung erstellt und im Anschluss zeitnah an die Mitarbeitenden und an die betroffenen Kooperationspartner versandt. So erreichen beispielsweise erarbeitete Definitionen von Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten (z.B. ausgelöst durch die Ausrichtung am qualifi­kationsgerechten Personaleinsatz von Lean Hospital) oder Befugnisse (z.B. neue Prozessabläufe ausgelöst durch Prozessoptimierungen) zeitnah, regelmässig und transparent die Mitarbeitenden und die Kooperationspartner der Notfallstation. Über die Dokumen­tation wird zudem auch über Ziel und Zweck von ­geplanten Schulungen und Simulationen (s. Tabelle) informiert.
Darüber hinaus findet die kommunikative Verknüpfung über die Mitglieder des Managementzirkels im persönlichen, untereinander koordinierten Austausch statt. Die Leitenden der Notfallstation informieren das Notfallstation-Team sowie die Kooperationspartner persönlich in gesonderten Gesprächen, neben der Teilnahme an den Leitungssitzungen von Innerer Medizin, Chirurgie und Pflege. Zudem bieten die reflexiven Gestaltungspraktiken des Mitarbeiterworkshops «Auf zu neuen Ufern» oder Teamentwicklungsmassnahmen (s. Tabelle) jeweils Gelegenheit für den persönlichen Austausch.
Der Managementzirkel ist damit für die systematische Verknüpfung unterschiedlicher reflexiver Gestaltungspraktiken von zentraler Bedeutung. Diese Orchestrierung braucht es, um dem Risiko enttäuschter Mitarbeitender und überforderter Leitung bei der Einführung von Lean Hospital zu begegnen.
Zusammengefasst wird die Orchestrierung der unterschiedlichen reflexiven Gestaltungspraktiken (s. Tabelle) auf der Notfallstation somit anhand von Struk­turie­rungsmerkmalen der reflexiven Gestaltungspraktiken (Inhalt, zeitlicher Rhythmus sowie Beteiligte) und über den Managementzirkel realisiert.
Bei der Einführung von Lean Hospital besteht eine zentrale Managementherausforderung somit darin, regelmässig dafür zu sorgen, den eigenen Arbeitsalltag ­immer wieder kritisch und mit Blick auf eine patientenzentrierte Behandlung zu hinterfragen. Dies können orchestrierte reflexive Gestaltungspraktiken leisten. Sie gehen dann wesentlich über eine Einführung von Lean Hospital hinaus, indem sie nicht nur die kontinuierliche Weiterentwicklung der Behandlungsabläufe (Wertschöpfung), sondern gleichzeitig auch deren Voraussetzungen (Entwicklung einer reflexions­freundlichen Praxis der Führung und Zusammenarbeit) in den Blick nehmen und weiterentwickeln helfen.

Resümee

Der erste Beitrag dieser Serie vermittelte, Lean Hospital im Spital als Repertoire an reflexiven Gestaltungspraktiken zu verstehen. Damit bietet Lean Hospital die Gelegenheit, systematisch die routinisierte Alltagspraxis (Wertschöpfung) und die Praxis der Führung und Zusammenarbeit (Entscheidungspraxis) mit Blick auf eine patientenzentrierte Wertschöpfung zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Im zweiten Beitrag haben wir anhand der Notfallstation gezeigt, wie dort über Lean Hospital hinaus ein Repertoire von reflexiven Gestaltungspraktiken entwickelt wurde, welches auch die mit der Optimierung der Alltagspraxis einhergehende Management-Praxis, Kooperationen und zukünftige Entwicklung der Notfallstation kritisch-konstruktiv in den Blick nimmt. Dieser dritte Beitrag zeigt anhand der Notfallstation, dass eine zentrale ­Managementaufgabe in der Orchestrierung dieser reflexiven Gestaltungspraktiken liegt. Gelingt diese systematische Vernetzung, dann tragen die reflexiven ­Gestaltungspraktiken dazu bei, dass die Beteiligten nachhaltig ihre routinisierte Alltagspraxis sowie ihre eigene Entscheidungspraxis gemeinsam reflektieren und weiterentwickeln. Dies wiederum stärkt die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und Selbsterneuerung der Organisation, sei es eine Station oder das Spital als Ganzes. Mit anderen Worten kann man die Einführung von Lean Hospital zu mehr nutzen als zu der Optimierung der eigenen Wertschöpfung mit Fokus auf gewachsene Abläufe und räumliche sowie technologische Bedingungen («Lösung sucht Problem»). Sie kann den Ausgangspunkt einer eigentlichen Managementinnovation bilden, um nicht nur die Behandlungsprozesse, sondern auch die eigene Praxis der Führung und Zusammenarbeit konsequent auf die Patienten­prozesse hin auszurichten («Problem sucht Lösung»). Für Letzteres muss jedoch gemeinsames reflexives Denken und Handeln möglich und ge­wünscht sein.
Dr. Simone Gutzan
Universität St. Gallen
Institut für Systemisches Management und
Public Governance
Forschungszentrum
Organization Studies
Dufourstrasse 40a
CH-9000 St. Gallen
1 Gutzan S, Tuckermann H, Müller TS, Rüegg-Stürm J. Lean Hospital – ein Praxisbeispiel. Schweiz Ärzteztg. 2018;99(09):280–3.