Entwicklung einer reflexionsfreundlichen Praxis der Führung und der Zusammenarbeit

Lean Hospital – ein Praxisbeispiel

Tribüne
Édition
2018/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2018.06362
Bull Med Suisses. 2018;99(09):280-283

Affiliations
a Universität St. Gallen, Institut für Systemisches Management und Public Governance;
b Chefarzt Zentrale Notfallstation, Stv. Leiter Unfallchirurgie, Kantonsspital Graubünden, Chur

Publié le 28.02.2018

Der erste Beitrag dieser Serie hat gezeigt, dass Lean Hospital mehr als eine ablaufbezogene, räumliche, technische und instrumentelle Optimierung der Wertschöpfung beinhaltet. Vielmehr geht es bei Lean Hospital auch um die Weiterentwicklung der Management-Praxis. Im Zentrum steht dabei die Entwicklung eines Repertoires von reflexiven Gestaltungspraktiken, um die etab­lier­­te Spitalwertschöpfung bereichs­übergreifend kritisch-konstruktiv zu reflektieren. Dies wirkt sich auch auf die alltägliche Entscheidungspraxis und damit auf die gelebte Praxis von Führung und ­Zusammenarbeit aus. In diesem Beitrag wird die Einführung von Lean Hospital am Beispiel einer interdisziplinären Notfallstation illustriert. Dabei wird deutlich, dass Lean-Praktiken aus dem Lehrbuch nicht ausreichen, um etablierte Behandlungsabläufe zu optimieren. Unser Praxisbeispiel zeigt vielmehr, dass eine nachhaltige Optimierung der Wertschöpfung unerlässlich mit der Entwicklung einer reflexionsfreund­lich(er)en Praxis der Führung und der Zusammenarbeit einhergehen muss.

Résumé

Le premier article de cette série a montré que le lean hospital ne se limite pas à une optimisation de la création de valeur au regard des processus, des locaux, de la technique, et des instruments. Il s’agit plutôt de perfectionner les pratiques de direction. Cela passe notamment par la mise au point d’un répertoire de pratiques de configuration réflexives, afin de ­mener une réflexion critique et constructive globale sur la création établie de plus-value à l’hôpital. Celle-ci influence également les pratiques décisionnelles quotidiennes, donc les pratiques vécues de direction et de collaboration. Cet article illustre l’introduction du lean hospital en prenant pour exemple un service d’urgence interdisciplinaire. Il montre que les pratiques lean tirées du manuel ne suffisent pas pour optimiser les processus thérapeutiques établis. Notre exemple pratique montre au contraire que l’optimisation durable de la création établie de plus-value doit impérativement se doubler de la mise au point d’une pratique de direction et de collaboration (plus) propice à la réflexion.
Rückblickend resümiert ein leitender Arzt zur Einführung von Lean Hospital auf der Notfallstation: «Am Anfang haben wir vor allem den Fehler gemacht, zu wenig zu reflektieren. Das wurde so auch von der Pflege gespiegelt.» Dieser Fehler droht, wenn sich die Einführung und Verankerung von Lean Hospital auf die korrekte Nutzung der «Lean-Toolbox» beschränkt.
Stattdessen muss von Anfang an parallel dazu auch an einer reflexionsfreundlicheren Praxis der Führung und Zusammenarbeit gearbeitet werden. Diese konkretisiert sich an der Art und Weise, wie über die mit der Einführung von Lean Hospital einhergehenden Veränderungen entschieden wird. Eine sorgfältige Thema­tisierung und Weiterentwicklung dieser etablierten Entscheidungspraxis geht Hand in Hand mit der ­Entwicklung und Klärung zwischen den beteiligten Health Professionals, wozu Lean Hospital genau dienen soll und wie die gewachsene routinisierte Wertschöpfung verstärkt in einer patientenzentrierten Weise gestaltet werden kann.

Die Einführung von Lean Hospital auf der Notfallstation

Aus Sicht unserer Begleitforschung lief die Einführung von Lean Hospital auf der Notfallstation in drei Phasen ab: In einer ersten Phase mit unmittelbarem Fokus auf die Wertschöpfung der Notfallstation scheiterte die Einführung von Lean Hospital trotz korrekter Nutzung der empfohlenen «Lean-Toolbox». Die zweite Phase war durch die Einsicht der Beteiligten auf der Not­fallstation gekennzeichnet, auch die etablierte Führung und die Zusammenarbeit auf der Notfallstation ­einschliesslich der Frage nach einer geeigneten Führungsstruktur zu hinterfragen. Die dritte Phase beinhaltete die experimentelle Entwicklung eines sorg­fältigen Zusammenspiels von Lean-Praktiken zur Optimierung der Wertschöpfung und die Pilotierung neuartiger reflexiver Gestaltungspraktiken zur Optimierung der Führung und der Zusammenarbeit auf der Notfallstation.

Phase 1: Einführung mit Fokus auf die routinisierte Alltagspraxis

Im Sommer 2013 informierte der CEO eines Zentrumsspitals seine Absicht, Lean Hospital als strategische In­itiative aufzusetzen. Bei zunehmendem Patientenaufkommen ging es ihm vor allem um die Steigerung der Zufriedenheit von Patientinnen und Mitarbeitenden. Mit Hilfe externer Berater sollte Lean Hospital mög­lichst zügig auf ausgewählten Pilotstationen einge­führt werden, so auch auf der Notfallstation. Nach ­einer ersten Einführung in die Ideen von Lean Hospitalals Möglichkeit zur Vermeidung von Verschwendungen bei der Patientenbehandlung waren die Mitarbeitenden motiviert, die Abläufe in ihrem Arbeitsalltag zu optimieren. Es fanden Gemba Walks statt, gefolgt von Umsetzungsworkshops und Wertschöpfungsanalysen. Dies diente einer Optimierung der Abläufe, der räumlichen Bedingungen und der Nutzung von technologischen Hilfsmitteln. Eine Konsequenz daraus bestand in der Idee, eine medizinische Teamevaluation (MTE) von Patienten zu etablieren, die gemeinsam und zeitgleich durch Facharzt und Pflege in einer neu gebauten MTE-Koje erfolgen sollte. Dafür wurden Abläufe sowie die bauliche Infrastruktur mit einer MTE-Koje und neuen Untersuchungsräumen entsprechend angepasst. Diese und andere Massnahmen sollten auf der Notfallstation die Durchlaufzeiten von Patientinnen und damit deren Wartezeit bei gleichbleibend hoher Qualität verkürzen. Auch sollte die MTE die Koordination zwischen Pflege und Ärzteschaft verbessern.
In dieser ersten Phase fokussierte das Team der Notfallstation mit Hilfe der empfohlenen Lean-Praktiken auf die unmittelbare Wertschöpfung. Die Gemba-Walks und die Wertschöpfungsanalysen halfen den Mitar­beitenden der Notfallstation, die eigene routinisierte Wertschöpfung gemeinsam zu reflektieren. Im Zentrum der Etablierung einer MTE stand die Frage, wie die historisch getrennte Entscheidungspraxis zwischen Ärzteschaft und Pflege bei der Behandlungsarbeit stärker zusammengeführt werden könnte. Für die Betei­ligten erweisen sich vor allem die Gemba-Walks, die Umsetzungsworkshops und die Wertschöpfungsana­lysen als hilfreich. Die Etablierung des MTE-Prozesses funktionierte dagegen in dieser Phase nicht. Unter anderem blieben die Entscheidungskompetenzen und Verantwortlichkeiten zwischen den Berufsgruppen unklar. Die angestrebte Verbesserung der interprofessionellen Zusammenarbeit blieb auf der Strecke. So ­berichtete eine Pflegende ernüchtert: «Die Chirurgen sind irgendwann einfach nicht mehr gekommen. Die Mediziner kamen nur noch sporadisch, und am Ende waren nur noch wir da. Aber dann macht eine MTE keinen Sinn!» Anscheinend konnten die erfolgten Anpassungen nicht die gewünschte Wirkung entfalten, wenn nicht gleichzeitig die Entscheidungspraxis zwischen den Professionen thematisiert wird.

Phase 2: Grundlegende Weiterentwicklung der etablierte Führung und Zusammenarbeit

Zu diesem Zeitpunkt erkannte eine Projektgruppe dringenden Handlungsbedarf. Um den Alltagsbetrieb aufrecht zu erhalten und gleichzeitig Lean Hospital einzuführen, brauchte es eine andere Strukturierung der Führung der Notfallstation, wie ein Geschäftsleitungsmitglied des Spitals konstatierte: «Darum habe ich auch gesagt: Stop, wir haben ein ganz anderes Problem, das hier das Lean-Projekt beeinträchtigt. Wir müssen die Struktur auf dieser Notfallstation anschauen». Die bisherige Leitung der Notfallstation (durch einen leitenden Internisten mit einem 50%-Pensum) war durch die Notwendigkeit einer intensiveren interdisziplinären und interprofessionellen Zusammenarbeit mit der Pflege und der Chirurgieüberfordert. Denn die mit der Einführung von Lean Hospital einhergehenden Entscheidungen erforderten die systematische Einbindung aller drei Bereiche, also eine interprofessionelle Entscheidungspraxis. Deshalb entwickelte das Pro­jektteam der Notfallstation gemeinsam mit dem zuständigen Geschäftsleitungsmitglied eine neue Führungsstruktur. Dieser neue Managementzirkel der Notfallstation ist ein Gremium aus einem Internisten, der Pflegeleitung der Notfallstation und ihrer Stell­vertreterin und einem Chirurgen. Neu führt dieser Managementzirkel gemeinsam die Notfallstation, wobei die Notfallstation durch Ernennung des Chirurgen zum Chefarzt der Notfallstation formal aufgewertet wurde.
Entscheidend war dabei, dass sich diese Phase nicht einfach in neuen strukturellen Festlegungen erschöpfte. Vielmehr wurden auf der Notfallstation eine Reihe neuer kommunikativer Plattformen etabliert: der Managementzirkel der Notfallstation als regelmässiger Treffpunkt der neuen Notfallstation-Führung, ein Mitarbeiterworkshop unter dem Motto «Auf zu neuen Ufern» zum Auftakt der neuen Notfallstation-Führung mit dem Team, Teamentwicklungsmassnahmen, Schulungen und Simulationen sowie Arbeitsgruppen zur gemeinsamen Bearbeitung von aktuellen Herausforderungen.
Diese Plattformen und die dazugehörigen reflexiven Gestaltungspraktiken (z.B. das zweiwöchentliche Durch­führen des Managementzirkels oder das Vorbereiten, Durchführen und Nachbereiten des Mitarbeiter-Workshops) dienten massgeblich dazu, die etablierte Entscheidungspraxis, also die Führung und Zusammenarbeit auf der Notfallstation, gemeinsam zu hinterfragen und weiter zu entwickeln. Diese Anstrengungen gingen weit über die empfohlenen Lean-Praktiken der ­ersten Phase hinaus und fokussierten auf eine grundlegende und längerfristig ausgerichtete Entwicklung der Führung und der Zusammenarbeit. Im Zuge dieser ­Aktivitäten gelang es, die entstandene Ernüchterung der Mitarbeitenden ins Positive zu drehen. Dies zeigte sich unter anderem an der Vielzahl eingehender Verbesserungsvorschläge für die Arbeitsabläufe auf der Notfallstation.
Dennoch tauchten in der neuen Leitung der Notfall­station neue Herausforderungen auf. So konnten beispielsweise Bedürfnisse von Mitarbeitenden und von Kooperationspartnern der Notfallstation sowie dringende Entscheidungen, die sich aufgrund einer Vielzahl von Verbesserungsvorschlägen bei der Um­setzung von Lean Hospitalergaben, teilweise nur unzureichend bearbeitet werden. Der chirurgische Leiter der Notfall­station beschrieb dies als «die Führungsbugwelle, die wir vor uns her stossen und die immer grösser [wird]». Dazu ergänzte die Pflegeleitung der Notfallstation: «[Die] Welle wächst und wächst, ich möchte eine Priorisierung: Was müssen wir zuerst anschauen?».
Mit anderen Worten stand nunmehr als Folge der ini­tiierten Optimierungsanstrengungen der eigenen Wertschöpfung (siehe Phase 1) auch eine grundlegende Weiterentwicklung der etablierten Führung und Zusammenarbeit an.

Phase 3: Reflexion der routinisierten Alltagspraxis und der Führung und Zusammenarbeit

Die Einsicht in die Notwendigkeit einer gleichzeitigen Entwicklung von Behandlungsarbeit (Wertschöpfung) und der Entscheidungspraxis prägte die dritte Phase der Einführung von Lean Hospital auf der Notfall­station. Der Chefarzt der Notfallstation beschrieb diese Herausforderung als «sich quasi einen Helikopterblick verschaffen». Aus seiner Sicht ging es um Folgendes: «Wir schauen von aussen drauf und tauchen zwischendurch wieder in die Tiefe – und ziehen uns dann wieder ein bisschen zurück».
So reflektierte die neue Leitung der Notfallstation mit ihrem Team in einem Workshop «Auf zu neuen Ufern» grundlegende Herausforderungen von Lean Hospitalmit Bezug auf die Wertschöpfung und die Praxis der Führung und der Zusammenarbeit auf der Notfallstation. Mit Blick auf die längerfristige Entwicklungder Notfallstation führte sie in dieser Phase erstmals regelmässige Strategieklausuren durch. Gleichzeitig wurde das bestehende Critical Incident Reporting System (CIRS) neu darauf ausgerichtet, eine offene Fehler- und Feedbackkultur nicht nur zur Vermeidung von Behandlungsfehlern zu nutzen, sondern auch in den Dienst ­einer kontinuierlichen Verbesserung von Abläufen und Entscheidungsprozessen zu stellen.
All dies dokumentiert das Arbeiten an wirkungsvollen reflexiven Gestaltungspraktiken, die es den Mitarbeitenden der Notfallstation erlauben sollten, sowohl ihre routinisierte Alltagpraxis als auch ihre etablierte Praxis der Führung und der Zusammenarbeit (Entscheidungspraxis) regelmässig in den Blick zu nehmen. Schliesslich kamen verstärkt auch Vernetzungsanlässe mit ­internen und externen Partnern zum Einsatz. Hierbei ging es darum, die wechselseitigen Erwartungen, Kommunikationsformen und Entscheidungspraktiken zwischen Notfallstation und anderen Abteilungen und ­Kliniken zu klären. Zu diesem Thema lud die Leitung der Notfallstation Partner als Gäste in den Manage­mentzirkel ein, und umgekehrt adressierten der Internist und der Chirurg die Anliegen der Notfallstation in ihren jeweiligen Departementsleitungssitzungen.
Tabelle 1: Lean Hospital als Repertoire (ausgewählter) reflexiver Gestaltungspraktiken.
Tabelle 1 zeigt zusammenfassend, dass während der Einführung von Lean Hospital auf der Notfallstation parallel zur Einführung der klassischen Lean-Praktiken proaktiv weitere reflexive Gestaltungspraktiken etabliert wurden (siehe Spalte «Reflexive Gestaltungspraktiken» in der Tabel­­le 1). Die Tabelle veranschaulicht dieses Repertoire an ausgewählten unterschiedlichen reflexiven Gestaltungspraktiken.
Weiterhin zeigt die Tabelle 1 (siehe Spalte «Schwerpunkt»), dass dieses Repertoire an reflexiven Gestaltungspraktiken auf der Notfallstation vier unterschiedliche thematische Schwerpunkte adressiert:
Alltagspraxis: Reflexive Gestaltungspraktiken, welche auf die Optimierung der Alltagskoordination und der unmittelbaren patientenzentrierten Wertschöpfung der Notfallstation abzielen.
Kooperationen: Reflexive Gestaltungspraktiken, welche eine Verstärkung der Kooperation mit anderen Abteilungen zum Ziel haben.
Künftige Entwicklung: Reflexive Gestaltungspraktiken, welche auf die längerfristige Entwicklung der patientenzentrierten Wertschöpfung der Notfallstation fokussieren.
Management-Praxis: Reflexive Gestaltungspraktiken, welche auf die Weiterentwicklung der Praxis abzielen, wie über die Optimierung von Wertschöpfung und Entscheidungspraxis reflektiert werden soll.
Wir können also den thematischen Schwerpunkt der beobachteten unterschiedlichen reflexiven Gestaltungspraktiken wie folgt zusammenfassen (siehe Abbildung 1):
Abb. 1: Reflexive Gestaltungspraktiken unterscheiden sich in ihrem thematischen Fokus.

Resümee

Das untersuchte Beispiel der Notfallstation illustriert, dass die Einführung von bewährten Lean-Praktiken zunächst hilft, den eigenen Alltag aus einer neuen ­Perspektive zu betrachten: mit dem Fokus auf eine ­Optimierung der Abläufe durch die Vermeidung von Verschwendungen. Dazu dienen reflexive Gestaltungspraktiken der Alltagskoordination (siehe «Alltags­koordination» in Abbildung 1). Allerdings ist es ­un­erlässlich, auch die eigene Entscheidungspraxis zu reflektieren, um eine reflexionsfreundliche(re) Praxis der Führung und Zusammenarbeit zu etablieren. Dies bildet erstens eine zentrale Voraussetzung dafür, dass die Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen und Kliniken zum Wohle von Patientinnen verbessert und gestärkt werden kann (siehe «Kooperationen» in Abbildung 1). Eine reflexionsfreundliche Praxis der Führung und der Zusammenarbeit steht zweitens auch im Dienste der längerfristigen (strategischen) Weiterentwicklung einer patientenzentrierten Wertschöpfung (siehe «Künftige Entwicklung» in Abbildung 1). Nicht zuletzt muss eine reflexionsfreundliche Praxis der Führung und der Zusammenarbeit auch die etablierte Management-Praxis selbst überdenken – wie in unserem Fallbespiel im Rahmen des Mana­gementzirkels (siehe «Management-Praxis» in Abbildung 1). Letzteres stellt jedoch etablierte Füh­rungs­selbstverständnisse und Machtansprüche in Frage. Lean Hospital impliziert deshalb auch ein gezieltes Arbeiten an einer tragfähigen und lebensförderlichen Spitalkultur. Ohne dies droht ein Scheitern von Lean Hospital.
Dr. Simone Gutzan
Universität St. Gallen
Institut für Systemisches Management und
Public Governance
Forschungszentrum
Organization Studies
Dufourstrasse 40a
CH-9000 St. Gallen