Freiheit mit Grenzen?

Briefe / Mitteilungen
Édition
2017/46
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.06200
Bull Med Suisses. 2017;98(46):1540–1541

Publié le 15.11.2017

Freiheit mit Grenzen?

Brief zu: Cartoon, SÄZ Nr. 34/2017 vom 23.8.2017
Die letzte Seite der SÄZ ist der Ort für Karikaturen. Hervorragend immer wieder jene von ANNA. Diese aber von BENDIMERAD in SÄZ 34/2017 bedarf Not wendend einer Kritik, da in ihr, neben Zutreffendem, mangelnde Würdigung von Psychiatern und ihrer Arbeit zum Ausdruck kommt.
Wie antwortet die Redaktion auf diese Thematik? Mir scheint: zwiespältig. Zum einen wird auf extreme Ausnahmen verwiesen, welche die redaktionelle Toleranz einschränkten, wie «rassistische Ausfälligkeiten, Leugnung des Holocaust». Zum anderen vermisse ich ein Fein- und Fingerspitzengefühl, welches die redaktionelle Verwaltung der SÄZ nicht vermissen lassen sollte. Denn im Kern der aufgeworfenen Thematik geht es nicht allein um die Frage von Qualität. So schreibt der Chefredaktor sinnigerweise von «erwarteter Qualität» – Dies scheint mir wahrlich der zentrale Punkt. Wer erwartet was? Wer liefert und wer bestimmt, was Qualität ist? Welche Richtschnur gilt und welcher Massstab zählt? Diese grundlegenden Fragen geraten aber eher aus dem Blickpunkt, sie werden quasi an die Peripherie verschoben. Ja, sie entschwinden, gemäss dem Motto: «Hier schweigt des Sängers Höflichkeit.» Dieses Schweigen ist schmerzlich. Die Zusammenbringung (lat. redigere, zurücktreiben, in einen Zustand bringen) von Qualität sollte begrifflich und redaktionell geleistet werden können. Warum nur lösen Zeichnung und Veröffentlichung solche Kontroversen aus? Warum fällt es uns Menschen so schwer, zu einer Mitte zu gelangen, oder diese nur anzustreben? Offensichtlich fällt es uns schwer, zentrifugale Kräfte zu überwinden und etwas mit Sorgfalt ins Zentrum zusammen zu bringen. Wieso nur ist es leichter, dem ernsten Thema die Schärfe und zentripetale Richtung abzuschwächen und die zen-trifugale zu stärken mit Formulierungen wie jener, es sei lediglich eine «Geschmacks­ache» oder eine Frage des Humors? Wie tatsächlich doppel-blind kann ein Mensch mit offenen, sehenden Augen sein?
Sorgfalt ist geboten. Denn das, worum es geht, ist zu seriös, als es in den Bereich des Lachhaften und des Lächerlichen abdriften zu lassen. Es geht um das Seelische im Menschen, sein Innenleben, seine Mitte und – ganz wesentlich – um deren Beachtung und Respektierung. Es geht zentral um dessen innere Festigung, folglich um Trost! Ist das nicht die Kernarbeit jedes psychiatrisch-psycho-therapeutischen Bemühens, jedes zeichnerischen, jedes redaktionellen, jedes ärztlichen, ja jedes mensch­lichen Schaffens?
Noch einmal, da dies nicht die erste ­Zeichnung von BENDIMERAD ist (siehe SÄZ Nr. 3/2017), die vergleichbare Reaktionen hervorruft. Der Psychiater, der diese damalige und nun diese neue Zeichnung anfertigt, leistet seinem Fachgebiet nicht nur einen Bärendienst, sondern bestenfalls einen tatsächlichen Dienst. Im Zeichnen wie im Publizieren, aber auch in jeder ärztlichen und menschlichen Tätigkeit geht es im Kern darum, in welchem Zustand etwas gebracht wird, wohin Kräfte gelenkt, wie Anschauungen geleitet und wozu sie angewendet werden. Deswegen sind kri­tische (Rück-)Fragen so bedeutsam. Sinnigerweise ist dem Zeichner, jenen, die es publi­zieren, und allen jenen, die sich öffentlich darüber austauschen, zu danken, da sie eine Emotion und eine Bewegung wahrnehmen und diese nicht ausser Acht lassen. Das Leben ist ein Spannungsfeld. Nicht nur zwischen «redaktioneller Unabhängigkeit» und «künstlerischer Freiheit», sondern auch zwischen «bewusst» und «unbewusst». Dynamiken und Kontroversen entstehen wesensmässig, aber diese sollten uns nicht die Mühen und Anstrengungen des Fragens, des Suchens und Findens ­einer Richtung, also von Sinn, ersparen. Dies ist eine Lebensaufgabe. So sollte grundsätzlich und zu allen Zeiten für kontroverse Reaktionen ausreichend Zeit und Raum zur inhaltlichen Auseinandersetzung in der SÄZ gegeben werden. Die Letzte Seite ist und darf nicht das Letzte sein. Nur so kann sich gelassen ent­wickeln, worum es sich in der Lebens- und Meinungsvielfalt zu ringen lohnt. Nur so mittelt das Medium* die Mitte, die es des Trostes wegen für alle zu suchen und zu finden gilt.
* lat. medium (Pl. medien), Mitte, Mittelpunkt, Gemeinwohl, öffentlicher Weg.