Paradigmawechsel von einer Bio­medizin zu einer biopsychosozialen Medizin

Briefe / Mitteilungen
Édition
2017/44
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.06155
Bull Med Suisses. 2017;98(44):1455

Publié le 31.10.2017

Paradigmawechsel von einer Bio­medizin zu einer biopsychosozialen Medizin

Brief zu: Fouradoulas M. Keine Alternative. Schweiz Ärztezeitung. 2017;98(40)1329.
Dr. med. Marc Fouradoulas nimmt in seinem Brief Stellung zu meinem Artikel «Fragwürdige Entwicklung» [1]. Sollte ich nicht antworten, ihm privat schreiben, oder in der SAEZ? Ich entschliesse mich für Letzteres, da in der heute akuten, mehrschichtigen Krise der Medizin der Paradigmawechsel von einer Biomedizin zu einer biopsychosozialen Medizin immer wieder geklärt und empfohlen werden soll.
Der Übergang von der Biomedizin zur bio­psychosozialen Medizin muss zum Wohl der Patienten und der Abflachung der Kostenkurve vollzogen werden.
Das heutige biomedizinische Konzept stützt sich auf eine mechanistisch-mathematische Evidenz und leitet daraus seine Algorithmen ab. Sie lässt die persönlich-geschichtliche Evidenz ausser acht [2].
Für diese gibt es so viele Belege, dass ich hier nur wenige nenne: Wer in der Kindheit see­lischer und körperlicher Gewalt ausgesetzt ist oder Zeuge davon wird, erleidet als Erwachsener häufiger chronische Schmerzen [3]. Hoffnungslosigkeit erhöht das Risiko, eine ­ischaemische Herzkrankheit zu erleiden [4]. Hilflosigkeit, depressive Affekte erhöhen die koagulanten Faktoren bei Betreuenden von Alzheimer-Kranken [5]. Scheidung mit Schweigen: steigert Langzeitfolgen für die Kinder bezüglich der Wahrscheinlichkeit, an einem Rhinovirus zu erkranken [6].
Wollen die Patienten dieses moderne Konzept? fragt Fouradoulas. Eindeutig ja, sie erleben darin Empathie, Achtung und die Möglichkeit, in der eigenen Art und mit eigener Zeitbestimmung ihre Anamnese zu berichten.
Die diagnostische Schärfe wird erhöht. Es kann beispielsweise vermieden werden, dass eine Frau, die an Druckgefühl im Thorax leidet, umsonst koronarografiert wird, obwohl sie alle Symptome der Cannon’schen Fight-Flight Reaktion aufweist [7]. Ein zweites Beispiel: Ein Patient, der vor der MRI-Apparatur panisch wird, wird überwältigt und gedämpft, so dass er einen Atemstillstand erleidet und eine Woche lang in der Intensivstation intubiert liegen muss [8]. Ein drittes Beispiel: Ein Patient wird wegen Thoraxschmerzn und Angst in zwei Jahren sechsmal unnötigerweise hospitalisiert und ein gutes Interview deckt ein Kindheitstrauma auf, wonach der Mann dauernd beschwerdefrei bleibt [9]. Diese klinischen Beispiele zeigen klar, dass das biopsychosoziale Konzept sparen hilft, und dass es falsch ist, die Zeit, die der Arzt mit dem Patienten verbringt, beispielsweise auf 20 Minuten zu beschränken, insbesondere, weil eine gute Anamnese länger als 20 Minuten dauern kann und eine gute Anamnese 80 bis 85% der Diagnosen klärt.
Auch der günstigere therapeutische Weg öffnet sich. Es fällt kein Spatz vom Dach (Matthäus 10, 5–33) oder: es entsteht keine Sym­ptom ohne … [10].
Wieder einmal: Dixi et animam meam salvavi.
1 Adler R. Fragwürdige Entwicklung. Schweiz Ärztezeitung. 2017; 98(37):1197–8
2 Adler RH. «Herausforderung für die Biomedizin: Das biopsychosoziale Konzept». EMH-Verlag, 2017. S. 19–28.
3 – Adler RH et al. Psychosom Med. 1989; 87–101.
– Engel GL. Amer J Med 1959; 26: 899–918.
4 Anda R et al. Epidemiology. 1993;4:285–94.
5 Von Kaenel et al. Psychosom Med. 2002;64:114.
6 Krapf R. Schweiz Med Forum. 2017;17(4):847.
7 siehe 1, S. 92–8.
8 siehe 1, S. 63–7.
9 siehe 1, S. 63–6.
10 siehe 1, S. 73–80.