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Menschenfleisch

Horizonte
Édition
2017/44
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.06143
Bull Med Suisses. 2017;98(44):1479

Affiliations
Prof. Dr. med. et lic. phil., Mitglied der Redaktion Medizingeschichte

Publié le 31.10.2017

Den Verzehr von Menschenfleisch lastete die Literatur früherer Jahrhunderte fremden Völkern an. Während sich in Robinson Crusoe dunkelhäutige Menschen an ihresgleichen vergreifen, sind die Opfer in Kinder­geschichten mitunter geliebte Heldenfiguren wie Rössli Hü oder Barbapapa – Bücher, die bis heute in Schul­bibliotheken zur Ausleihe angeboten werden.
Eucharius Rösslin, Kreuterbuch, S. LXX, Frankfurt a. M. 1538, Sammlung Dr. Franz Käppeli.
Doch wer ist sich bewusst, dass mitten in Europa noch bis in die Neuzeit Menschenfleisch konsumiert wurde? So führt das «Kreuterbuch» von Eucharius Rösslin d. J. (ca. 1500–ca. 1545) unter anderen heilbringenden Sub­stanzen wie Smaragd, Weihrauch oder dem geheimnisvollen Ophthamus auch «Menschenfleysch» oder «Mumia» auf. Als Illustration dient ein Holzschnitt, der offensichtlich als anatomische Darstellung der Beingefässe konzipiert worden war.
Während der Begriff «Mumia» in anderen Rezept­büchern auch teerähnliche Substanzen umfasste, verstand Rösslin darunter eindeutig das Fleisch einbalsamierter Toter. Das Menschenfleisch soll «gebrennt», also verkohlt, in Öl oder Wasser gelöst werden. Es wirke gegen die unterschiedlichsten Schmerzen im Kopf und Halsbereich und helfe bei Ohnmachten und Fallsucht, Lungen- und Herzbeschwerden sowie Darmwinden. Menschenfleisch lasse sich auch als Zäpfchen oder Klistier anwenden, um diverse Störungen im Genitalbereich zu beseitigen. Historischer Hintergrund dieser Rezepte bildet der «medizinische Kannibalismus», wie die pharmazeutische Nutzung des menschlichen Körpers in der Vormoderne bezeichnet wird.
Als Stadtarzt von Frankfurt a.M. trat Rösslin in die Fussstapfen seines gleichnamigen Vaters, der durch das Hebammenbüchlein «Der schwangeren Frauen und Hebammen Rosengarten» Berühmtheit erlangt hatte. Das «Kreuterbuch», das erstmals 1533 erschien, enthielt zwar kaum Neues, erlebte aber zahlreiche Neuauflagen und wurde posthum unter dem Namen von Adam Lonitzer herausgegeben, der Rösslins Ausführungen zum «Menschenfleysch» samt Grafik übernahm.
iris.ritzmann[at]saez.ch