Zur Privatisierung des Invaliditätsrisikos

Briefe / Mitteilungen
Édition
2017/45
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.06094
Bull Med Suisses. 2017;98(45):1500–1501

Publié le 08.11.2017

Zur Privatisierung des Invaliditäts­risikos

Mit Interesse haben wir vom gemeinnützigen Verein «Rechtsberatungsstelle UP für Unfallopfer und Patienten» die von Dr. Brühlmeier lancierte Diskussion über die strenge Praxis der IV verfolgt. Der Verein engagiert sich seit Jahrzehnten für Unfallopfer, Versicherte und Patienten. An sechs Standorten in der Schweiz werden mehrmals wöchentlich von jeweils zwei Anwälten für einen kleinen Unkostenbeitrag Beratungen angeboten (Anmeldungen unter 0800 707 277 oder www.rechtsbe
ratung-up.ch).
Die Erfahrungen des Vereins decken sich weitestgehend mit denjenigen von Dr. Brühlmeier. So sehen wir seit Jahren eine immer strengere Praxis der Invalidenversicherung bei der Leistungszusprechung. Dabei «legitimieren» IV-Stellen ihre Entscheide mit Verweisen auf Gesetze, das Bundesgericht und die Gutachten (die den Zeitgeist und die immer strenger werdenden rechtlichen Voraussetzungen für Invalidenrenten kritiklos und teilweise unter Ausblendung der medizinischen Erkenntnisse umsetzten). Das Bundesgericht (welches selber auch «Politik» macht, indem es strenge allgemeine Annahmen [z.B. ausgeglichener Arbeitsmarkt] oder Regeln für gewisse Beschwerdebilder [Schmerzen und neu auch Depression] aufstellt) verweist regelmässig auf die Gesetzgebung. Der Gesetzgeber resp. die Politiker sehen sich letztlich als Vertreter ihrer Wähler und nicht der kleinen «unpopulären» Gemeinschaft der Kranken und leistungsmässig Eingeschränkten.
Fakt ist jedoch, dass die Anzahl der Renten der IV massiv gesenkt wurde, in einem Zeitraum, in dem die Bevölkerungszahl der Schweiz gestiegen ist. Das zeigt offensichtlich, dass der Zugang zu den Versicherungsleistungen – für welchen die Versicherten regelmässig erhebliche Prämien bezahlt haben – zunehmend erschwert oder gar verunmöglicht wurde.
Im Resultat führt dies dazu, dass das in der IV abgedeckte Risiko der dauernden gesundheitsbedingten Erwerbseinbussen von den Versicherten selber getragen werden muss. So sehen wir, dass viele von der IV abgewiesene Versicherte (oder diejenigen, bei denen die Renten aufgehoben wurden) nicht fürsorgeabhängig werden. Der Grund dafür ist jedoch nicht (wie Herr Dummermuth in seinem Artikel das darstellt), dass die Personen eingegliedert sind. Vielmehr wird der Lebensunterhalt anderweitig bestritten: Ehepartner bauen ihr Arbeits­pensum aus, Doppelverdiener müssen nur noch mit einem Lohn auskommen, Gross­familien unterstützen die versicherten Personen usw. Dies führt zur Schmälerung des ­Familienbudgets und zum Absinken an oder unter die Armutsgrenze, was insbesondere für Familien mit Kindern weitreichende Konsequenzen hat und die Versicherten nur noch kränker macht. Diese «Privatisierung» des ­Invaliditätsrisikos stellt einen Rückschritt in die Epoche vor dem Sozialstaat dar und widerspricht im Grundgedanken einer solidarischen Gesellschaft, in der auch für die Schwächeren gesorgt werden muss.
Für die Lösung dieser Problematik gibt es an sich nur zwei Ansätze: Entweder wird allen Versicherten, die als direkte oder auch nur indirekte Folge ihrer Erkrankung keine Stelle mehr finden (weil sie so schwer krank sind, dass sie überhaupt nicht mehr arbeiten können oder zwar noch eine theoretische Arbeitsfähigkeit besteht, sie aber auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr haben), ein realistischer und fairer Zugang zur Rente gewährt (wozu die Fiktion des «ausgeglichenen Arbeitsmarktes» aufzugeben ist), oder die Wirtschaft stellt (freiwillig oder unter politischem Druck) sicher, dass auch eingeschränkten Personen eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit ermöglicht wird. Erst wenn diese «Missstände» behoben sind, ist es legitim, auch die Diskussion über «Scheininvalide» – unter deren Deckmantel die Sparbemühungen ja eingeläutet wurden – aufzunehmen.
Weitergehende Ausführungen mit Hin-
weisen auf ­Gerichtsurteile können unter 
www.kspartner.ch/aktuell/ abgerufen werden.