Antwort auf den offenen Brief der Präsidentin des Bündner Ärztevereins, Frau Dr. H. Jörimann

Briefe / Mitteilungen
Édition
2017/32
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.05899
Bull Med Suisses. 2017;98(32):991

Publié le 09.08.2017

Antwort auf den offenen Brief der Präsidentin des Bündner Ärzte­vereins, Frau Dr. H. Jörimann

Mehr Qualität und Selbstbestimmung bei medizinischen Eingriffen
Ärzte lassen an sich oder ihren Familienmitgliedern nachweislich gewisse Eingriffe signifikant weniger häufig durchführen als an ihren Patienten. Wieso wurde Frauen aus der Unterschicht überdurchschnittlich oft die Gebärmutter entfernt? Wieso gibt es heute noch unzählige unnötige Eingriffe gegen Prostatakrebs, die zu schweren Beeinträchtigungen der Lebensqualität führen, obwohl diese Diagnose zu Lebzeiten oft gar keinen Schaden anrichten kann? Niemand geringerer als der Entdecker des Prostata-spezifischem Antigens (PSA), Richard Ablin, spricht von einer «profitgetriebenen Katastrophe für das Gesundheitssystem». Ähnliche Kritik gibt es gegen Massenscreenings zu Brustkrebs, die oft mehr Angst und Schaden anrichten als diese Nutzen generieren. Die Kantone Bern und Solothurn wollen nun deshalb die Notbremse ziehen. «Fragwürdige Weltmeisterin» ist die Schweizer Chirurgie übrigens bei der Implantierung von Knie- und Hüftgelenken und dies obwohl weniger weitgehende Eingriffe häufig bessere Resultate erzielen.
 

Mehr Selbstbestimmung, weniger ­Bevormundung

Nur wenn der Patient zum Voraus über die tatsächlichen Chancen und Risiken sowie die Alternativen in verständlicher Weise aufgeklärt wird, hat er eine echte Chance auf Selbstbestimmung. Faktisch liegt oft eine subtile Steuerung durch das Spital oder den behandelnden Arzt vor. Sicherlich wollen unsere Ärztinnen und Ärzte in der Regel das Beste für ihre Patientinnen und Patienten; trotzdem bleibt festzuhalten: Betriebsblindheit gibt es auch bei diesen Berufsleuten – und diese wird nicht eben gebremst, wenn an jedem Eingriff verdient wird, selbst wenn er überflüssig oder gar kontraproduktiv ist. Sich im Spital oder beim Arzt wohl zu fühlen ist daher nicht genug! Die Qualität eines Eingriffs ist der ­Unterschied von vor der Behandlung zu nachher – und dieser Unterschied ist messbar! Wenn unsere Bevölkerung kaufkraftbereinigt mehr als doppelt so viel Geld für die Gesundheit ausgibt wie in Italien oder Spanien, muss dies ergebnisbezogen auch wesentlich deutlicher zum Ausdruck kommen – was jedoch leider nicht der Fall ist! Es braucht deshalb dringend mehr Transparenz bei der «Ergebnisqualität»: Welche gesundheitliche Veränderung hat ein Eingriff in einer bestimmten Situation für einen Patienten gebracht? Nur wenn Betroffene und Angehörige umfassend und verständlich aufgeklärt werden über den Mehrwert eines medizinischen Eingriffs, können diese persönlich auch die für sie richtigen Entscheide treffen. Solange dies nicht der Fall ist, bleibt gültig, was Bundesrat und Gesundheitsexperten belegen, auch wenn es nicht gerne gehört wird: 20 Prozent der medizinischen Eingriffe sind überflüssig! Sie haben für die Patientinnen und Patienten keinen Mehrwert, sondern für diese nur Belastungen zur Folge – punkto Gesundheit und letztlich auch beim Portemonnaie bzw. den Krankenkassenprämien.
 
Effizienz und Qualität statt Rationierung
Ich bin mit der Präsidentin des Bündner Ärztevereins aber insofern einig, dass wir unserer Bevölkerung keine Rationierung zumuten dürfen und wollen. Jedermann soll im Bedarfsfall rasch die notwendige und wirksame medizinische Versorgung erhalten. Damit dies so bleibt, muss systematisch in die ­Effizienz und in die Qualität investiert werden: Wir wollen bei den medizinischen Behandlungen nicht in die zweite Liga absteigen, aber bei den Eintrittspreisen jene der Champions League bezahlen.