Versicherungsmedizin

Briefe / Mitteilungen
Édition
2017/32
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.05878
Bull Med Suisses. 2017;98(32):993–994

Publié le 09.08.2017

Versicherungsmedizin

Die Autoren Mast und Schneuwly, ein Neurologe und ein Kommunikationsspezalist, werben für mehr Verständnis für die Versicherungsmedizin [1]. Dabei wird Missverständnis und Unverständnis für die Fachkompetenz und Tätigkeit von Psychiater(inne)n und den von uns behandelten Störungen sichtbar.
Die Autoren beginnen ihre Stellungnahme mit den Honoraren. Dabei ist ihnen offenbar nicht bewusst, dass einerseits die Versicherungsmedizin von uns Behandlern eine «Bringschuld» an diagnostischen Befunden und fachkompetenter Beurteilung der Funktionseinschränkungen erwartet, andererseits eben diese Berichte von den auftraggebenden Versicherungen häufig mit nur einem geringen Honorarangebot von 40 bis 120 Franken einverlangt werden.
Von den Autoren wird auf eine «biologisch verstandene Gesundheitsstörung» verwiesen. Damit können auch unsere sehr sorgfältig geschriebenen Berichte als nichtig beurteilt werden. Alle sogenannten funktionellen und somatoformen Störungen sind betroffen und werden von der Versicherungsmedizin als «lediglich möglich» beurteilt. Es handelt sich allesamt um Störungen, gemäss ICD-10 klassifiziert. Die Tatsache, dass für viele der sogenannten «funktionellen Störungen» im klinischen Alltag noch keine in-vivo-menschenwürdig-anwendbare «biologische» Diagnostik vorliegt, wird den betroffenen Patienten zum Verhängnis. Es geht um Patienten, welche auch durch Nichtanerkennung der Invalidität nicht gesunder werden (siehe Untersuchung D. Brühlmeier, [2]).
Zwar liegen zahlreiche Hinweise aus der Grundlagenforschung vor (z.B. Gen-Demethylierungen bei Schmerzverarbeitungsstörungen, Veränderungen der Neuronalen Netzwerke durch Mangelerfahrungen in der kindlichen Entwicklung usw.). Wissen, welches keine Evidenz in der Klinik nachweist, wird nicht einbezogen. Es sei denn die IV selber wollte nicht evidente Untersuchungsmethoden anwenden, um «Lügner» zu ertappen. Dass neue naturwissenschaftliche Kenntnisse (siehe z.B. NZZ am Sonntag [3]) sich mit unserem Erfahrungswissen decken, aber die Lücke für die klinische Anwendung bisher nicht geschlossen werden konnte, wird offenbar von der Versicherungsmedizin nicht diskutiert.
Uns Psychiatern steht ein steht ein riesiges klinisches Erfahrungswissen zur Verfügung. Was für uns anerkannte Methoden, erlernt in 5- bis 6-jähriger Weiterbildung sind, wird von den mit unserer Fachkompetenz unvertrauten Kollegen als subjektiv und damit nicht verwendbar taxiert. Das Fach Psych­ia­trie und Psychotherapie hat gerade dort, wo die Medizin bisher nicht in der Lage war, die bio­logischen Grundlagen der Störungen zu er­kennen, andere Ansätze der Diagnostik hervorgebracht (AMDP, operationalisierte psycho­dynamische Diagnostik OPD, usw.). Zudem wird ausgeblendet, dass auch die sogenannten biologischen Befunde fehlerhaft sein können und ebenso der Interpretation bedürfen. Somit sind diese nicht einfach «wahrer» als die von uns sorgfältig erhobenen Befunde, welche sich im zwischenmenschlichen Kontakt im Rahmen der Arzt-Patienten-Beziehung er­geben.
Wie die Autoren schreiben, wurde diese «vertragsbedingte Kondition nicht von medizinischen Gutachtern» erdacht. Wäre es nicht Aufgabe aller Mediziner, vermittelnd zu wirken? Die psychiatrischen Methoden des Erkennt­nisgewinns sollten innerhalb des Medizinalsystems adäquat gewichtet werden. Es deutet einen Rückfall in dunkle Zeiten an, wenn kranke Menschen als unsere Gesellschaft aussaugende Monster dargestellt werden.
Dass nun das Bundesgericht sogar den Nachweis der Therapieresistenz fordert (vergl. ­Medienberichte vom 17.7.2017 SRF), verdeutlicht die Groteske. Viele Psychiater/-innen ­erachten auch Patienten mit einer IV-Rente nicht als austherapiert. Die Rente kann eine Grundlage schaffen, damit genügend Ruhe und Sicherheit entsteht, damit überhaupt eine Verbesserung der Situation wieder in kleinen Schritten und über mehrere Monate oder Jahre entstehen kann. Dass das Instrument Rentenrevision gut etabliert ist und ­somit Verbesserungen des Gesundheitszustandes wiederum erfasst werden könnten, scheint vergessen gegangen zu sein.