Vertrauen aus psychotherapeutischer und neurobiologischer Sicht

Tribüne
Édition
2017/3031
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.05746
Bull Med Suisses. 2017;98(3031):962–965

Affiliations
a Prof. Dr. med., Psychiatrie Baselland, Direktor Erwachsenenpsychiatrie, Mitglied SGPP, Mitglied FMH
b Dr. med., Psychiatrie/Psychotherapie FMH, Abteilung für Kognitive Neurowissenschaften, Universität Basel, Mitglied FMH

Publié le 26.07.2017

Was ist Vertrauen? Versuch einer ­Definition

Vertrauen ist nicht lediglich eine vorübergehende Gestimmtheit. Es ergibt sich aus einem Prozess, der schliesslich eine komplexe, emotional gefärbte Welt, mit den für sie charakteristischen Elementen wie Geborgenheit, Wärme, Akzeptanz, Liebe usw., eröffnet. Eine Welt entspannter Sicherheit, welche jedoch los­gelöst von menschlicher Beziehung nicht denkbar ist. Vertrauen lässt sich als spezifische Gefühlshaltung – als affective attitude – charakterisieren, welche im Verlauf durch eine cognitive attitude, d.h. eine bewusst wahrnehmende und denkerische, vielleicht auch zielstrebige Haltung ergänzt wird. Zum Vertrauen gehört das Nebeneinander von gefühlsmässiger Sicherheit («ich vertraue ihr») und bewusster Einsicht des Denkens («ich weiss, dass ich ihm vertrauen kann»). Beide amalgamieren sich zu dem, was wir mit Vertrauen umschreiben. Um zu vertrauen, muss ich ­Wissen haben. Aber Wissen alleine reicht nicht aus. Das Vertrauen muss auch emotional verankert sein.

Résumé

La confiance est essentielle dans le quotidien psychothérapeutique et médical. Elle est décrite comme une attitude affective. Les émotions correspondantes s’accompagnent de processus cognitifs de réflexion et d’évaluation, de connaissances et d’expériences. La capacité de développer et d’accorder sa confiance apparaît très tôt et évolue en fonction des expériences relationnelles personnelles et de leur charge émotionnelle. La confiance ne peut pas être considérée comme donnée de manière statique, elle n’est pas irréversiblement garantie une fois accordée. Cette dynamique influe sur les maladies physiques et psychiques et joue un grand rôle dans les questions thérapeutiques.
Vertrauen entwickelt sich unter der Beobachtung des kritisch abwägenden Auges der Ratio dergestalt, dass der Entschluss, ob nun ver- oder misstraut werden soll, situationsadäquat und im Sinne der Beziehung fair ­fallen kann. Die Entwicklung kann allerdings in die eine oder die andere Richtung polarisiert werden! Dies sind Szenarien, die sich in der Beziehung zwischen ­Patient und Arzt sehr dramatisch auswirken können. Man denke etwa an das grosse Vertrauensbedürfnis des plötzlich schwer körperlich Erkrankten oder an das systematische Misstrauen eines paranoiden Menschen. Das vorschnelle Schenken von Vertrauen oder ein ­ungeprüftes Misstrauen können die Funktion ­haben, eine schwer erträgliche Situation, geprägt von Angst, Unsicherheit, Ambivalenz, Selbst- und Fremdzweifel, zu neutralisieren. Die scheinbare, fragile, aber dennoch beruhigende Eindeutigkeit wird rasch her­gestellt, auch wenn sie einem Vorurteil entspringt. Dadurch wird der anstrengende Aushandlungsprozess vermieden. Das seelische Gleichgewicht wird vorerst wieder erreicht, die Chance aber, echtes Vertrauen zu bilden, ist für den Moment vergeben.

Welche neurobiologische Basis hat ­Vertrauen?

Wir gehen davon aus, dass Vertrauen als komplexes ­soziales Phänomen ein im zentralen Nervensystem verortetes biologisches Korrelat hat. Es ist theoretisch ­möglich, einen solchen Mechanismus vollständig auf­zu­klären und ihn therapeutisch nutzbar zu machen. In Ansätzen wissen wir, dass bei der Entwicklung und ­Erhaltung von primärer Bindung Opiate und für das care taking der Mutter Botenstoffe wie Oxytocin eine wichtige Rolle spielen. Auch beim Menschen gestalten diese Stoffe die Qualität früher Bindungserfahrungen mit, welche ihrerseits die spätere Fähigkeit zum trust building entscheidend mitprägen. So liess sich experimentell zeigen, dass Vertrauen pharma­kologisch durch die intranasale Gabe von Oxytocin ­induziert werden kann. Allerdings wurde dieser Befund in jüngerer Zeit wegen inkonsistenter Replikation und methodologischer Unzulänglichkeiten kritisiert und zur Zurückhaltung bei der Interpretation dieser ­Resultate gemahnt.
Nehmen wir dennoch an, dass wir den Vertrauens-Mechanismus neurobiologisch dereinst bis ins kleinste Detail dechiffriert haben werden. Was würde uns das bringen? Wir wären vielleicht im Stande Vertrauen chemisch herzustellen. Wie aber würde sich eine solche künstliche Induktion ohne Einbettung in eine ­tatsächlich gelebte Beziehung anfühlen? Wäre dieses Surrogat, diese neurochemische Entfachung von Vertrauen, wirklich ein Gewinn? Würde bei schwer psychisch Kranken nicht lediglich eine neue Art von sub­stanzgebundener Abhängigkeit geschaffen werden, so wie wir dies von Morphin- und Heroinsüchtigen kennen?
Wir glauben nicht, dass die Ärzte durch eine «Vertrauens-Pille», würde sie denn gefunden, einer ihrer Hauptaufgaben, dem trust building, enthoben würden. Denn Vertrauen zu bilden und zu erhalten, ganz besonders in schwierigen Situationen, gehört zur Kernkompetenz des Arztes und ist ein wichtiger Faktor für das Gelingen von Therapien. Eine Sicht, die auch durch die Placebo-Forschung bestätigt wird. Interpersonale Erfahrungen und die komplexe Gefühlshaltung Vertrauen lassen sich mit einiger Aussicht auf Erfolg auf ihre neurobiologischen Korrelate hin unter­suchen und auch beeinflussen. Letztlich beherrscht und erledigt werden sie dadurch freilich nicht. Dies bedeutet auch, dass die biologischen Grund­lagenwissenschaften auf der einen sowie die Geis­teswissenschaften auf der anderen Seite sich nicht ­einfach ersetzen oder gegenseitig aufheben. Viel frucht­barer ist die Sicht, dass sie sich ergänzen. Ein Ansatz, dem im Forschungskanon viel zu wenig Rechnung ­getragen wird.

Wie kommt Vertrauen zu Stande?

Vertrauen bildet sich immer als sozial-interaktives Phänomen. Es ist ohne den Anderen, die Wahrnehmung seiner Person, den Austausch mit ihm und die Bindung an ihn nicht denkbar. Die Fähigkeit des Menschen zur Vertrauensbildung wird durch frühe emo­tionale Bindungen geprägt. Je nach deren Qualität ­können sich basic trust, d.h. Ur-Vertrauen, sowie Selbst-Vertrauen entwickeln. In engem Zusammenhang ­damit entsteht die Fähigkeit zur Empathie und damit ein Gespür für Fairness und Gegenseitigkeit, welche beide Grundbedingungen für die Entfaltung von Moral sind. Die Bildung von Ur-Vertrauen und die ­Fähigkeit, sich zu binden, müssen zudem in einem ­bestimmten Zeitfenster aufgebaut und gefestigt werden. Geschieht dies nicht, wird es schwerer es später nachzuholen.

Vertrauen als dynamischer Prozess in Beziehungen

Da Vertrauen stets an Beziehungen geknüpft ist, und diese sich ständig verändern, ist auch das Vertrauen volatil. Es kann, einmal entstanden, trotz guten Willens verloren gehen, und manchmal wird es aus Verzweiflung, Angst und innerer Not aufs Spiel gesetzt, oder gar mutwillig zerstört. Deshalb mag es auch riskant erscheinen, Vertrauen überhaupt zu entwickeln. Vertrauen kann aber auch blind werden und dadurch an Wert verlieren. All das zeigt, dass einmal gefasstes Vertrauen nicht einfach garantiert ist. Es hat sich in Phasen des Zweifels und der Enttäuschung zu bewähren, und muss ständig gepflegt werden.
Vertrauen ist eine «Wette auf die Zukunft», v.a. auf eine Zukunft, die mit anderen geteilt wird. Damit sich in Beziehungen Vertrauen bilden kann, braucht es zudem eine offene Verständigung. Vertrauen ist an wirksame Kommunikation gebunden. Es kann nur wachsen, wenn wir uns persönlich in Beziehungen einbringen. Das, was unsere Persönlichkeit ausmacht, kann sich verändern. Für das Vertrauen in Beziehungen ist entscheidend, dass wir anderen gegenüber zu diesen Veränderungen stehen können und sie ihnen gegenüber nachvollziehbar darstellen. Nur dann sind wir authentisch, sind wir keine Maske, bleiben natürlich, menschlich, und für den anderen versteh- und begreifbar.

Absicherung des Vertrauens

«Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser», sagt das Sprichwort und legt damit nahe, dass Kontrolle im Vergleich zu Vertrauen ein verlässlicheres Mittel zum Erreichen eines Zieles sei. Das Sprichwort lässt aber noch weitere Interpretationen zu: Einerseits, dass gewonnenes Vertrauen sich mit einem Netz aus Regeln und Vorschriften kontrollieren und damit konservieren und sichern lässt, andererseits dass Vertrauen und Kon­trolle sich ausschliessen.
Natürlich lässt sich Vertrauen weder kontrollieren noch festhalten. Manchmal aber ist Kontrolle in der Tat wertvoll. Sie gibt Sicherheit und schafft dadurch Vertrauen und Akzeptanz. Nehmen wir als Beispiel die Ausbildungssituation in einer Klinik: Wenn der Oberarzt die Berichte eines unerfahrenen Assistenten nicht kontrolliert, wird dieser möglicherweise nach aussen blamiert werden. Vielleicht muss der Kontrollierte sich an der Kontrolle auch reiben, um ihre positiven Seiten zu ergründen. Vertrauen wird so auf die Probe gestellt, bekommt aber gleichzeitig auch die Chance zu wachsen. Kontrolle und Vertrauen sind also nicht als strikte Gegensätze zu verstehen und dürfen nicht gegen­einander ausgespielt werden. Normen und Regulie­rungen, vorausgesetzt sie sind nicht blind-autoritär und damit sinnentleert, entlasten die Beziehung 
von konstanten Aushandlungsprozessen. Aber Regeln können ebenso wenig wie Kontrollen Vertrauen er­setzen. Regeln sind ein Adjuvans, das den Vertrauens­prozess unterstützt. Vertrauen selbst reglementiert aber nicht, sondern lässt die Vertrauensperson los 
und eröffnet für sie Spielräume und Wirkungsfelder. Der Assistenzarzt braucht das Vertrauen des ­Ober­arztes, der ihm fachliches Wissen und ärztlich-menschliche Qualitäten zuschreibt. So ergibt sich ein dialektisches Verhältnis von voraussetzungslosem Vertrauen einerseits, sowie vernünftiger Regeln und Kontrollen andererseits. Zusammen vermitteln beide Sicherheit.
In der Psychotherapie geben Regeln einen stabilisierenden Rahmen vor. Verlässlich eingehalten markieren sie Grenzen und ermöglichen damit scheinbar ­paradox einen bemerkenswerten Grad von Freiheit. Das Setting erlaubt, dass sehr vieles angesprochen und gezeigt werden darf, kann, und sogar soll, was in einer Alltagsbeziehung nicht möglich wäre, ja diese heillos überfordern würde. Patienten testen natürlich das Setting, indem sie die Regeln in Frage stellen. Sie erkunden damit auch, ob der Therapeut sich an vereinbarte Vorgaben hält und vertrauenswürdig ist. Kritik und Regelverletzung können auf diese gefasste Weise Vertrauen stabilisieren und damit Beziehung und Entwicklung, d.h. neue emotionale Erfahrung überhaupt ermöglichen!
Vertrauen muss in der psychotherapeutischen Beziehung erarbeitet werden. Es kann nicht einfach vorausgesetzt werden ­(Symbolbild).

Vertrauen im Zustande der Krankheit

Krankheit fordert Vertrauen in besonderer Weise heraus. Gerade neu und akut-bedrohlich Erkrankte müssen sich mit ihrem Kranksein auseinandersetzen und treffen zudem vielleicht auf einen Arzt oder Thera­peuten, den sie noch nicht kennen. Die Auseinandersetzung mit einer neuen Situation und einer neuen ­Beziehung kann den Prozess der Vertrauensbildung ­erschweren. Die Asymmetrie der Arzt-Patienten-Beziehung, welche durch die Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit des Kranken geprägt ist, kann sich zudem belastend auswirken. Das Gefühl, gleichzeitig einer noch unbekannten Krankheit und einer unsicheren Beziehung ausgeliefert zu sein, kann den Wunsch nach vorschnellem und hilflosem Vertrauen schüren und in die Abhängigkeit führen. Es kann aber auch zu einer Quelle des Misstrauens werden.
Die Krankheit selbst kann einen grundlegenden Vertrauensverlust bewirken. Schweres seelisches Leiden ist dadurch geprägt, dass die natürliche Selbstverständlichkeit von Selbst und Welt verloren geht. Auf einmal kann den eigenen Gedanken, Gefühlen und Wahrnehmungen nicht mehr getraut werden. Aber auch das Verhältnis zum eigenen Körper kann sich wandeln. Die sonst selbstverständliche Vertrautheit mit ihm kann einer tiefgreifenden Entfremdung und Unsicherheit weichen. Für schwere körperliche Erkrankungen gilt umgekehrt, dass sie das eingespielte Körperbild gefährden und damit das Körpervertrauen aufheben können, bis schliesslich auch die psychische Struktur aus dem Gleichgewicht gerät. Eine akute leukämische Erkrankung, die mit ihren Krankheitsele­menten, den Blutzellen, den ganzen Körper zu durchdringen vermag, wird oft als hochgradig bedrohlich empfunden und kann zu akuter Todesangst von vor­übergehend grenz-psychotischem Ausmass führen.

Vertrauen in der Therapie

Selbstverständlich kann Vertrauen in therapeutischen Beziehungen nicht einfach vorausgesetzt werden. Wie alles Vertrauen muss es beiderseits hergestellt und immer wieder erneuert werden. Ebenso wie der Patient wird sich auch der Therapeut sehr oft seinen Patienten nicht wählen können. Auch er leistet also einen Vertrauensvorschuss. Diesen zu geben fällt leichter, wenn der Therapeut ein Potential beim Patienten erkennt, das den Vorschuss abstützt. Aber oft genug ist er aufgefordert, erst einmal das Misstrauen des Patienten zu würdigen, anzuerkennen und auszuhalten. Ein Mensch, der viele Beziehungsabbrüche und Verletzungen erlebt hat, wird sich auch in therapeutischen Beziehungen nicht einfach vertrauensvoll öffnen können. Vertrauen muss dann therapeutisch erst erarbeitet werden. Somit ist es oft nicht so sehr Voraussetzung, als vielmehr Resultat der Therapie. Vertrauen ist auch in therapeu­tischen Beziehungen nicht gegeben, sondern aufge­geben.
Auch der Patient wird in der Regel dem Therapeuten anfänglich einen Vertrauensvorschuss einräumen müssen. Obschon sich das Verständnis der Arzt-Rolle in der Öffentlichkeit stark gewandelt hat, wird der Arzt oder Therapeut noch immer, gerade zu Beginn einer Behandlung, idealisiert. Wir sehen darin eine wichtige Starthilfe für die Vertrauensbildung. In einer Psychotherapie muss später jedoch an dieser Form von positiver Übertragung gearbeitet werden. Nicht selten ist der nächste Schritt eine Entwertung, die wieder Distanz schafft, um das aus subjektiver Warte vielleicht zu früh und zu unkritisch gewährte Vertrauen zu relativieren. Dieser Mechanismus kann, oft nicht unmittelbar erkennbar, mit Gefühlen von Scham und Schuld verknüpft sein, die nicht immer bewusst sind und die post-hoc den abrupten Umschlag zu erklären ver­mögen. In einem solch wechselhaften Verhältnis Vertrauen aufzubauen, das auch auf einer realistischeren Beziehungsgrundlage bestehen und weiter gedeihen wird, bedeutet harte beidseitige Arbeit. In einem therapeutischen Prozess, der über eine gewisse Zeit dauert, kann es immer wieder zu Vertrauenskrisen kommen, die keineswegs den Abbruch einer Behandlung und ­damit der therapeutischen Beziehung bedeuten müssen. Vielmehr kann und muss das Vertrauen wieder­gewonnen werden. Das gelingt in der Psychotherapie am besten, wenn Krisen exemplarisch als Beziehungskrisen und damit als Beziehungsprüfungen verstanden werden. Eine gute Therapie begünstigt die Re-Inszenierung und damit die Wiederholung einer oft wohl und lange bekannten Beziehungsproblematik. Im Unterschied zur Beziehung des Alltags ermöglicht es die therapeutische durch die entsprechende Haltung diese wiederkehrenden Krisen, in denen Vertrauen ganz grundsätzlich zur Diskussion gestellt wird, zu verstehen und mit Gewinn zu bearbeiten.
Beide Autoren haben keine Interessenskonflikte.
Prof. Dr.
Joachim Küchenhoff
Direktor
Erwachsenenpsychiatrie
Psychiatrie Baselland
Bienentalstr. 7
CH-4410 Liestal
Joachim.Kuechenhoff[at]unibas.ch
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