Irren ist menschlich

Horizonte
Édition
2017/33
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.05738
Bull Med Suisses. 2017;98(33):1052–1053

Affiliations
Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie, Mitglied FMH, Autorin und Herausgeberin von Fachpublikationen

Publié le 16.08.2017

Klaus Dörner, Ursula Plog, Thomas Bock, Peter Brieger, Andreas Heinz, Frank Wendt (Hrsg.)

Irren ist menschlich

Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie
Köln: Psychiatrie Verlag; 2017, 24. vollständig ­überarbeitete Auflage.
989 Seiten. 39.95 Euro.
ISBN 978-3-88414-610-1
Auch Fachbücher können Bestseller werden. Irren ist menschlich, einer der psychiatrischen Best- und Longseller, ist im 40. Jahr in der 24. Auflage und der vierten Neubearbeitung von insgesamt 400 000 Exemplaren erschienen. Der Titel weckt Assoziationen an das «Irresein» als Bezeichnung für psychische Erkrankungen im 18. und 19. Jahrhundert. Dass wir uns irren können, verbinden wir heute nicht mehr damit. Der Lehrbuchtitel nimmt bewusst Bezug auf beide Bedeutungen: Die alltägliche Möglichkeit sich zu irren und psychisch krank zu sein. Nicht nur der Titel, auch das Lehrbuch ist nach wie vor ein besonderes:
– Es richtet sich nicht nur an psychiatrisch Tätige, sondern an alle, das heisst an Ärztinnen und Ärzte anderer Fachgebiete, Pflegende, in Sozialarbeit, Pädagogik etc. Tätige, an Angehörige und Patientinnen und Patienten selbst, aber auch an alle, die sich für das Fachgebiet interessieren.
– Es stellt das Fachgebiet nicht aus der Krankheits- oder Störungsperspektive, sondern aus der Personen- und Beziehungsperspektive dar.
– Es ist geprägt vom Respekt vor den kranken Menschen und betrachtet sie als gleichberechtigt, als grundsätzlich mündige und urteilsfähige Menschen und überdies als autonome Mitglieder der Gesellschaft.
– Folgerichtig gibt es in Ergänzung zu den Kapiteln über den «sich und andere versuchenden Men­sch(en)» (Abhängigkeit), den «sich und andere be­mühende(n) Mensch(en)» (neurotisches Handeln, Persönlichkeitsstörungen, Psychosomatik) etc. auch ein Kapitel über psychiatrisch Tätige («der sich und andere helfende Mensch»). Das Kapitel stellt sie auf dieselbe Ebene wie psychisch kranke Menschen. Hier werden wichtige Themen angesprochen, die in Lehrbüchern selten auftauchen, wie z.B. die Reflexion des eigenen Handelns, die Arbeit im Team, unterschiedliche Berufsrollen, der Umgang mit Macht, Nachdenken über das Helfenwollen, über Eigenes und Fremdes u.a.m.
– Geprägt ist das Buch auch von der politischen Haltung, die insbesondere in der Zeit der Psychiatrie­reform in Deutschland einen entscheidenden Stellenwert hatte.
– Von der ersten Auflage an pflegt das Buch eine ­eigene Sprache. Aufhorchen lassen nicht nur die Kapitel­überschriften, sondern eine Fülle eigener Wortprägungen, die zum Nachdenken anregen und Achtsamkeit wecken. Allerdings sind nicht alle Wortprägungen ohne weiteres eingängig. Zuweilen wirken sie sperrig, sie können auch irritieren.
– Den Zugang erleichtern Vorwort und Gebrauchsanweisung.
– Üblicherweise beginnen Lehrbücher mit den Grundlagen oder auch mit einem allgemeinen Teil. Im speziellen Teil werden in der Regel die einzelnen Krankheits- bzw. Störungsbilder vorgestellt, gefolgt von der Beschreibung der Therapien. Irren ist menschlich beginnt mit «der sich und andere helfende Mensch». An die Kapitel zu den Verfasst­heiten des Menschen in unterschiedlichen Zu­ständen und Handlungsperspektiven schliesst sich ein Ka­pitel zur Psychiatriegeschichte an, eines zu Psych­iatrie und Recht. Das Kapitel «Ökologie der Selbst- und Fremdhilfe» stellt die Hilfs- und ­Behandlungsangebote vor. Unter dem Begriff «Techniken» befassen sich drei Kapitel mit sozialpsychiatrischen, pharmakologischen und psychotherapeutischen Behandlungsmethoden.
Dies alles macht die grosse Stärke des Buches aus. Dies alles ist der Grund dafür, dass das Lehrbuch zum Best- und Longseller geworden ist. Dies alles impliziert allerdings auch Dilemmata:
– Die Adressierung an alle öffnet zwar auf der einen Seite die Leserschaft, führt auf der anderen Seite aber zu Einschränkungen, wenn einzelne Gruppen unter bestimmten Themen in einem ausgewachsenen Lehrbuch mehr als die vorgestellten Ausführungen erwarten.
– Die Personenperspektive verdeutlicht zwar, dass psychische Erkrankungen oder Störungen zu einer bestimmten Verfasstheit führen, die Handlungsspielräume einengen, und dass es in der Behandlung darum geht, sie zu öffnen. Dilemmata entstehen dort, wo in (nicht intendierter) Extrapolation die Kranken mit der Krankheit gleichgesetzt und auf neue Weise stigmatisiert werden, die Erwartung an Handlungsoptionen auf Seiten der Kranken diese überfordern oder auch die Sinnhaftigkeit überfrachtet wird. Die Handlungsperspektive kann den Blick auf die Dinge trüben, die nicht in der Macht des Einzelnen stehen. Wie Herzlich und Pieret gezeigt haben, ist Krankheit wie Kranksein gerade nicht beliebig beeinfluss- und steuerbar [1]. Als Utopie ist die Personenperspektive für die Psychi­atrie wichtig. Als Ersatz für die Nosologie ist sie nicht unbedingt hilfreich.
– Psychisch Kranke generell als mündig, urteilsfähig und gleichberechtigt anzusehen entspricht zwar ­einer wichtigen Grundhaltung in der Psychiatrie. Wer mit schwer psychisch Kranken zu tun hat und weiss, wie belastend und wie heikel Entscheidungen über die aufgehobene Urteilsfähigkeit sind, vermisst die vertiefte Auseinandersetzung mit Situa­tionen, in denen diese Grundannahme nicht mehr zutrifft.
– Einige der Kapitelüberschriften übertreiben die ­Personen- und Handlungs- bzw. Beziehungsper­spek­tive in einer Form, die eher abschreckt. So wurde beispielsweise aus der Kapitelüberschrift «der depressive Mensch» «der sich und andere niederschlagende Mensch». Auch in der vierten Neubearbeitung sind die Überschriften stehen geblieben.
– Sich als Behandelnde selbst einzuschliessen, die eigene Haltung und das eigene Handeln kritisch zu hinterfragen, ist für die Arbeit in der Psychiatrie unerlässlich. Das Dilemma besteht hier in der Möglichkeit der Überidentifikation mit der Folge, dass Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit verschwimmen und Behandeln verunmöglichen. Zuweilen ist eine pragmatische Haltung gefragt nach den Gesetzen des «House of God». Paragraph 4 lautet dort: «der Patient ist der mit der Krankheit» [2].
– Nicht überall ist das Lehrbuch auf dem aktuellen Stand des empirischen Wissens und therapeutischer Ansätze.
Aus einem Zweipersonenbuch wurde ein 24-Personenbuch mit 6 Herausgebern (in die Ursula Plog als Erstautorin neben Klaus Dörner postum eingeschlossen bleibt). Im Gegensatz zu vielen herausgegebenen Lehrbüchern ist Irren ist menschlich durchgängig gut geschrieben, (wenn man sich auf seine Haltung und seine Sprache einmal eingelassen hat) gut lesbar, ohne grössere sprachliche Brüche zwischen den einzelnen Kapiteln.
Die vielen Beispiele, Fragen und Übungen regen zum Nachdenken über die eigene Haltung, Erfahrungen und die eigene Tätigkeit an, zum Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen und zum Rollenspiel. Die Gliederung auch der einzelnen Kapitel ist übersichtlich. Der Umschlag ist flexibel und abwaschbar. Nicht nur das Buch mag man gerne in die Hand nehmen, auch das Papier ist griffig, das Layout mit Grün und Weiss ansprechend, die Icons schön und eingängig. Register und Literaturverzeichnis unterstützen thematisches Lesen und ergänzende Lektüre. Allerdings ist der Band mit fast 1000 Seiten inzwischen auch recht gross und schwer geworden. Aber es ist auch als eBook erhältlich.
Die Ansprüche sind insgesamt hoch und so vielfältig, dass es kaum möglich, ist ihnen gerecht zu werden. Für die nächste Neuauflage sei der Wunsch nach etwas mehr Bescheidenheit berechtigt: Nicht alle müssen alles wissen und können. Brechungen dürfen sichtbar werden: Wo geht es um Utopien statt Ansprüche, wo um unterschiedliche Perspektiven, die nicht durch ­einander ersetzbar sind, und wo um Haltungen, die zwar als Grundhaltung wichtig, aber in der Realität nicht beliebig verwirklichbar sind.
Geprägt ist das Buch von der konsequenten anthropo­logischen und soziologischen Perspektive. Zuweilen fehlt ihr die Ergänzung durch die pathologische Per­spektive. Das, was sonst – fast – ausschliesslich den Blick von Lehrbüchern ausmacht, ist hier eine Begleiterscheinung. Deshalb ist das Buch so wichtig. Darin liegen aber auch seine Grenzen. Es kann kein anderes Lehrbuch ersetzen. Aber die Wahl jeder anderen Lehrbuchlektüre sollte durch Irren ist menschlich ergänzt werden.
Die Rezensentin ist Herausgeberin und Autorin verschiedener Fachpublikationen. Am rezensierten Buch hat sie in keiner Weise mitgearbeitet.
Dr. med.
Ulrike Hoffmann-Richter
Metzgerrainle 4
CH-6004 Luzern
praxis[at]
hoffmann-richter.ch
1 Herzlich C, Pieret J. Malades d’hier, malades d’aujourdh’hui: de la mort collective au devoir de guérison. Paris: Payot 1984.
2 Shem S. House of God. Erstauflage 1978. Deutsch zuletzt München: Droemer Knaur 2007.