Heimat

Horizonte
Édition
2017/2829
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.05710
Bull Med Suisses. 2017;98(2829):922

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publié le 12.07.2017

«Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen (…) Was ich niemals besass wird mir entrissen – Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.»
Drei Zeilen eines bekannten Gedichtes von Volker Braun aus der Wendezeit enthalten fast alles, was Thema der Ausstellung in Lenzburg «Heimat – Eine Grenz­erfahrung» ist. Dies, obwohl Worte wie Heimat, Exil oder Sehnsucht darin nicht vorkommen. «La thématique de ‹Heimat› est au cœur de l’actualité. Mais qu’est-ce qu’une patrie?» Die französische Übersetzung des Ausstellungspro­spektes weist darauf hin, dass das deutsche Konzept von Heimat im Französischen keine genaue Entsprechung findet. Bereits sprachlich ein komplexes Thema, dem sich das Stapferhaus unerschrocken zuwendet.
Besucher erhalten ein Säckchen mit Jetons, und dann geht es vom Warteraum in eine Geisterbahn voller Schlagzeilen aktueller Ängste und Bedrohungen. Das darauf folgende Spiegelkabinett reflektiert die unterschiedlichen Wahrnehmungen des eigenen Körpers, ein Test sortiert die Antworten nach den vier Grundkräften der Persönlichkeit im Spannungsfeld von Nähe und Distanz, Wandel und Dauer. Tausend Menschen wurden an 12 Chilbenen auf ein Riesenrad eingeladen und zum Begriff Heimat befragt. Fotos, Videos und grafische Auswertungen demonstrieren eine interaktive geistige Landkarte von Gefühlen, Erinnerungen und Überzeugungen. Auf Bildschirmen berichten Männer und Frauen von Landschaften, Melodien, Geschmäckern und Gerüchen. Wenn es nach Kuhmist, Benzin, gemähten Wiesen, nach See, nach einer bestimmten Mahlzeit oder nach einem Sommergewitter riecht, wird die vergangene Kindheit lebendig. In sieben Holzhäuschen erzählen Menschen unterschiedliche Heimatgeschichten. Da ist einer überall zuhause, wo es ­einen Internetanschluss gibt, ein anderer findet im ­Urnäscher Silvesterbrauch seine Heimat, ein anderer im Exil und wieder ein anderer im neuen Körper weiblichen Geschlechts. Über einer Liege geht der Blick im verdunkelten Raum in den Kosmos. Milliarden Sterne und Milliarden Neuronen stellen die alte Vorstellung vom Mikro- und Makrokosmos wieder her. Heimat aus neurobiologischer Sicht. Am Ende verortet der ausgewertete Psychotest nach Fritz Riemann jeden und jede als Stern am Firmament. Dann wird es wieder handgreiflich-real auf dem Riesenrad mit Blick auf eine ­typische Agglo-Schweiz, vom Lenzburger Schlosshügel bis zu den Jurahöhen am Horizont. Die Gondel hält auf Dachstockhöhe, wo Zahlen und Fakten die Jetztzeit belegen. Migration, Ausweisung, Einbürgerung, Rückführung und Anpassung, Grenzschutz, Mauern und Zäune. Das ganze Spektrum von Hoffnungen, Zwängen und Härtefällen. Wer darf bleiben – wer sind wir – was gehört sich – welche Heimat wollen wir? Heimatschutz, Zukunftsvisionen, Heimat als eine von den Behörden abgestempelte Bestätigung. Kurzvorträge ergänzen das Gelesene, man kann darüber abstimmen, ob die Gleichberechtigung der Frauen rechtens oder die Pasta schweizerisch ist. Zum Abschluss der Entdeckungsreise fliegt der Besucher ins Weltall und blickt zurück auf seinen Heimatplanet.
Das Stapferhaus will Räume zur Auseinandersetzung mit Gegenwartsfragen schaffen. Das ist einmal mehr mit einem abwechslungsreichen Parcours durch einen mit Informationen vollgepackten Ideenpark gelungen. Das Gesehene und Gelesene will allerdings verdaut sein. Ein zweiter Besuch würde helfen, das Anhören begleitender Vorträge und Diskussionen oder das gleichnamige Buch zur Ausstellung mit seinen Hintergrundtexten die wünschenswerte Vertiefung herstellen.
Die Erfahrung von Heimatverlust, Heimatsuche und Heimatlosigkeit erfährt jede Generation aufs Neue. Mit dem Menschenrecht auf Heimat verbinden sich Schutz und Anerkennung für die Millionen Entwurzelten und Vertriebenen. Viele sind da und doch nie angekommen. Wo Erinnerungen und Sehnsucht ideologisch werden, wird es gefährlich. Grenzerfahrungen zu akzeptieren hiesse auch, einen mehrdeutigen Begriff als Metapher für einen letztlich utopischen Ort zu akzeptieren.
erhard.taverna[at]saez.ch