Die Fantasien der Impfgegner

Briefe / Mitteilungen
Édition
2017/2122
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.05707
Bull Med Suisses. 2017;98(2122):687

Publié le 24.05.2017

Die Fantasien der Impfgegner

Ein etwas polemischer Beitrag zur Impfdebatte.

Es war sein wohl grösster Tabubruch und brachte ihm die jahrelange Ächtung der Ärzteschaft ein: Sigmund Freuds Entdeckung der kindlichen Sexualität. Im Verlauf des letzten Jahrhunderts wurde aus dem Skandal eine breit akzeptierte Tatsache. In den medizinischen Vorlesungen wird die kindliche Masturbation als Teil der normalen Entwicklung ­gelehrt. Der Arzt und Impfgegner Alexander Ilg belehrt uns nun aber in der einschlägigen Presse eines Besseren: Kindliche Masturbation kann eine Impffolge sein!
Dies mag selbst in Impfgegner-Kreisen eine extreme Position sein. Sie legt aber die zugrunde liegende Fantasie der Impfgegner unverhohlen zutage: die Fantasie des reinen, unschuldigen Kindes – wenn es denn nicht durch die Zusatzstoffe der Pharmaindustrie verdorben würde. Wir treffen hier auf den grundlegenden Mechanismus einer jeden Ideologie: Ein schwer erträglicher innerer Konflikt wird ausgelagert auf einen äusseren Konflikt zwischen einer reinen, unverdorbenen Gesellschaft und dem schädlichen Einfluss des anderen (des Ausländers, des Juden usw.).
Was hat der Impfgegner davon? Impfkritiker dürfen sich zunächst einmal als aufgeklärte Bürger sehen, welche nicht blind der Autorität der Ärzteschaft und der Propaganda der Pharmaindustrie vertrauen, sondern sich selber eine Meinung bilden. Sie dürfen sich als gute Eltern sehen, die ihr Kind vor den schädlichen Einflüssen beschützen. Vor allem aber dürfen sie ihr Kind als reines, nicht-masturbierendes Geschöpf sehen.
Welche Tatsache wird denn überdeckt mit der Fantasie des reinen Kindes und dem Feindbild der schädlichen Impfungen? Nichts anderes als die Tatsache, dass der Mensch ein zutiefst konflikthaftes Wesen ist, und dass unser Kind unweigerlich demselben Schicksal entgegengeht wie wir alle: Auch unser Kind wird eines Tages in inneren Konflikten gespalten sein und sein neurotisches Elend tragen müssen. Und wir Eltern tragen zwangsläufig die Schuld dafür: Wir sind es, die unser Kind mit unseren Ticks und Erwartungen prägen. Wir sind es, die unser Kind in diese Gesellschaft gebären. Die Impfschäden, das sind all die diffusen Schäden, die wir Eltern und unsere Gesellschaft bei unseren Kindern unweigerlich hinterlassen.
Eng verbunden mit der Impfgegnerschaft ist auch die Fantasie einer Rückkehr in eine vormoderne, naturverbundene Gemeinschaft. Paradoxerweise sind aber gerade die Impfgegner Ausdruck einer besonders bedenklichen Entwicklung der vom neoliberalen Kapitalismus geprägten Spätmoderne: Die Impfgegner sind der Inbegriff des egoistischen Denkens der Selbstoptimierung. Im Zentrum ihrer Kosten-Nutzen-Rechnung steht stets das eigene Kind: Was hat mein Kind von der Impfung? Diese Eltern aus der oberen Mittelschicht erhoffen sich einen Vorteil für das eigene Kind, auf Kosten aller anderen Kinder, welche die angeblichen Impfschäden ja in Kauf nehmen müssen, damit die Kosten-Nutzen-Rechnung der Impfgegner aufgeht.
Was den Impfgegnern fehlt, ist die gemeinschaftliche Perspektive. Stellen wir uns doch einmal das Szenario vor, die Impfgegner müssten nicht für das eigene Kind, sondern für die gesamte Schweiz eine Entscheidung treffen: Sollen wir den Impfplan aufgeben? Lassen wir die Herdenimmunität auslaufen? Nehmen wir ein Wiederaufflammen von vergessenen Kinderkrankheiten und damit eine deutlich höhere Kindersterblichkeit in Kauf? Hier sähe die Kosten-Nutzen-Rechnung vermutlich anders aus.