Mehr Verständnis für die eid­genössische Versicherungsmedizin

Tribüne
Édition
2017/2829
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.05665
Bull Med Suisses. 2017;98(2829):918–921

Affiliations
a Prof. Dr. med., Polydisziplinäre Medizinische Abklärung, PMEDA, Zürich, Mitglied FMH; b Comparis AG, Zürich

Publié le 12.07.2017

Angesichts der gelegentlich kontroversen Debatte zwischen ärztlichen Behandlern und medizinischen Gutachtern haben die Autoren die hierbei häufigen Argumente aufgegriffen und versuchen, zu einem besseren gegenseitigen Verständnis beizutragen.
Die Diskussion zwischen versicherungsmedizinisch tätigen Ärzten und ärztlichen Behandlern ist bisweilen kontrovers und von Missverständnissen geprägt. Die Behandler sehen sich dabei oft in der Position, ihre ­Patienten gegen eine vermeintliche Übermacht von Kostenträgern sowie medizinischen Gutachtern verteidigen zu müssen, und offenkundig ist es den ver­sicherungsmedizinisch tätigen Ärzten bislang nicht ausreichend gelungen, mit klärenden Argumenten zu einem besseren Verständnis beizutragen.

Résumé

Compte tenu des débats parfois controversés opposant les praticiens et les experts médicaux, les auteurs se sont fait l’écho des arguments fréquemment exposés et ont tenté de contribuer à améliorer la compréhension ­réciproque.

Auch Behandler arbeiten nicht pro bono

Nahezu alle Ärztinnen und Ärzte sind bekanntlich ­gegen Honorar oder für ein Gehalt tätig. Die Ansicht ­einer quasi «gekauften» versicherungsmedizinischen Arbeit ist somit ebenso richtig wie falsch, da selbstverständlich auch der Behandler in aller Regel nicht pro bono arbeitet. Ein einfacher Honorarvergleich kann hier auch kaum greifen, denn der mit versicherungsmedizinischer Arbeit verbundene Aufwand ist zumindest derart gross, dass sich nach wie vor zu wenige Ärzte überhaupt bereitfinden, dies gegen ihre Tätigkeit in der Patientenversorgung anteilig einzutauschen. Die wachsende Zahl versicherungsmedizinischer Aufträge und deren Laufzeiten unterstreichen dies ebenfalls.
Das weitere Argument einer Zweckgemeinschaft von Gutachtern und Auftraggebern bedarf ebenfalls einer näheren Prüfung. Dass man den Führungsgremien von Versicherungsunternehmen und den Leitungskadern sozialer Sicherungssysteme eine Konzentration auf das pekuniäre Ergebnis unterstellt, mag – obwohl in der oft suggerierten Einfachheit abwegig – hier dahin­stehen. Im versicherungsmedizinischen Alltag wirken nämlich durchaus ausgleichende Kräfte, namentlich haben Sachbearbeiter und Sachbearbeiterinnen, die in der Regel an ihrem Kontingent zu betreuender und zu erledigender Vorgänge gemessen werden, und der über ihnen waltende Mittelbau im Falle ab­lehnender oder vermeintlich unzureichend gross­zügiger ­Bescheide einen erheblichen Mehraufwand durch ­vielfältige Einsprachen. Eine willkommene Form der Er­ledigung kann auf dieser Handlungsebene mithin durchaus auch ein anerkennendes Gutachtenergebnis sein. Dementsprechend sind versicherungsmedizinisch tätigen Ärzten Klagen über den nach­gehenden Aufwand mit dem Gutachtenergebnis durchaus nicht unbekannt. Die Gemengelage in der Erwartungs­haltung seitens der Auftraggeber ist somit weniger monochrom als gemeinhin angenommen. Richtig ist vielmehr, die Auftraggeber von versicherungsmedizinischen Untersuchungen repräsentieren das übliche Spektrum menschlichen Arbeitens und Verantwortungsbewusstseins, und die im versicherungsmedizinischen Alltag tätigen Sachbearbeiter erledigen ihre Arbeit in aller Regel unvoreingenommen und korrekt.

Ethischer Alleinvertretungsanspruch ist wenig schlüssig

Wiederkehrend werden versicherungsmedizinische Diskussionen mit einer ethischen Kompetenzhoheit aufgeladen, dies unter der Gleichsetzung von Leistungszuerkennung mit einem ethischen Verhalten und der inversen Konklusion im umgekehrten Falle. Auch diese Argumentation geht jedoch fehl, da sowohl die Attestierung eines namhaften Leidens als auch dessen Negation in der Medizin gleichrangige Risiken birgt. Eine bestehende Erkrankung nicht zu diagnostizieren gilt dabei als ebenso problematisch wie die Attestierung eines tatsächlich gar nicht bestehenden Leidens (und die daraus resultierenden Folgen und Risiken unnützer Behandlungen). In den versicherungsmedizinischen Kontext übersetzt, ist es ebenfalls bei weitem nicht risikofrei und einfach, einem Versicherten eine behinderungsrelevante Erkrankung zu attestieren, da sich hieraus, jenseits eines primären pekuniären Gewinns, erhebliche Weiterungen ergeben, die oft unzureichend bedacht werden. Hierzu zählen der poten­tielle depressionsfördernde Effekt von Arbeitslosigkeit sowie die mögliche Stigmatisierung am Arbeitsmarkt und im sozialen Kontext durch attestierte vermeintliche Einschränkungen. Die Anstrengungen in der Integration von behinderten Menschen in den Arbeitsmarkt werden nicht zuletzt mit Argumenten der sozialen Teilhabe und der Vermeidung negativer psychosozialer Folgen einer Ausgrenzung begründet. Der bisweilen mit einem ethischen Alleinvertretungsanspruch einhergehende Furor ist also wenig schlüssig, und auch eine verwehrte Leistungszuerkennung kann ethisch und verantwortungsbewusst abgewogen sein. Einen Versicherten von der nach hiesiger kultureller Konvention immer noch lebensinhaltbildenden Aktivität – namentlich Arbeit/Beruf – auszuschliessen erfordert zumindest eine ebenso grosse Sorgfalt wie der umgekehrte Fall.
Eine Taggeld-, Invaliden- oder Unfallversicherungs­leistungen verneinende versicherungsmedizinische Bewertung berührt die Leistungen der Krankenversicherung nicht. Qualifizierte versicherungsmedizinische Bewertungen erkennen zudem keine Erkrankung kategorisch an oder ab, sondern zeichnen sich durch eine Abwägung von Wahrscheinlichkeiten und vor allem durch die Beantwortung der Frage nach einer behinderungsrelevanten Gesundheitsstörung aus. Dabei ist die zugrundeliegende Diagnose zwar von Interesse, für die Beantwortung der Gutachtenfragen jedoch oft sekundär, da es vorrangig auf die Behinderungsrelevanz einer biologisch verstandenen Gesundheitsstörung und nicht auf deren Natur ankommt (Letztere ist eher für die Prognose und bei Unfallbegutachtungen relevant).
Die Grundlage jeder qualifizierten versicherungsmedizinischen Expertise sind eine ­solide Anamnese und ein gründlicher Befund. Jeder klinisch erprobte Arzt kann sich versicherungsmedizinisches Spezialwissen aneignen.

Prinzip der überwiegenden ­Wahrscheinlichkeit

Gutachterliche Bewertungen sind zudem auf die Frage der überwiegenden Wahrscheinlichkeit einer Gesundheitsstörung zentriert, da nur im Fall der überwiegenden Wahrscheinlichkeit eine leistungsbegründende Konstellation besteht. Diese vertragsbedingte Kondition ist nicht von medizinischen Gutachtern erdacht, sondern vorgegeben und in versicherungsmedizinischen Bewertungen stets zu berücksichtigen. Mit der klinischen Behandlungspraxis ist dies jedoch nicht vergleichbar, da der Behandler seine Diagnostik und Behandlung – mit gutem Grund – auch an lediglich möglichen Gesundheitsstörungen ausrichten muss. Das versicherungsmedizinische Prinzip der leistungsbegründenden Wahrscheinlichkeit und auch der kürzlich seitens des Bundesgerichts betonte Grundsatz der beim Versicherten liegenden Beweislast berühren eben nicht die Behandlungspraxis des Klinikers. Die Bedingungen versicherungsmedizinischer Leistungszuerkennung (überwiegende Wahrscheinlichkeit, Objektivierung anamnestischer Angaben, Beweislast beim Versicherten liegend, Finalität) und deren Ergebnis (Zusprache oder Ablehnung pekuniärer Leistungen) sind von Leistungen der Krankenversicherung (Diagnostik und Therapie) grundsätzlich getrennt zu betrachten.
Herzstück ärztlichen Arbeitens ist bekanntlich die Verantwortung in Diagnostik und Therapie. Im Rahmen versicherungsmedizinischer Arbeit entsteht jedoch keine mit der klinischen Behandlung von Patienten gleichrangige Situation, die Auftraggeber betonen regelhaft (und zu Recht), dass eine Therapie nicht zu ­erfolgen hat. Der Versicherte erwartet vorrangig eine Beurteilung seines meist pekuniären Anspruchs, nicht eine Behandlung. Ein Behandlungsvertrag kommt also nicht zustande, und die Untersuchung folgt mehr dem Muster einer Eignungsprüfung. Im Effekt befindet sich der Gutachter somit auch in einer «komfortableren» Situation hinsichtlich der Verantwortung und Haftung als der Behandler. Die von Behandlern eingeforderte Achtung ihrer Arbeit hat also einen respektablen Grund.

Gutachter konkurrieren nicht mit dem Behandler

Jede medizinische Zusatzdiagnostik bedarf bekanntlich der begründenden Indikation, namentlich einer präformulierten Fragestellung und einer Definition des therapeutischen Gewinns. Zusatzuntersuchungen im Rahmen versicherungsmedizinischer Arbeit, die eine Therapie – wie oben gesagt – qua Definition nicht umfasst, sind somit limitiert und besonders begründungsbedürftig, vor allem kommen Untersuchungen mit höheren Komplikationsrisiken nicht in Betracht. Insofern ist das bisweilen zu hörende Argument, im Rahmen einer gutachterlichen Untersuchung seien diese oder jene Zusatzuntersuchungen nicht erfolgt, wenig stichhaltig. Gutachterliche Bewertungen erfolgen nämlich auf dem Boden dessen, was die Behandler vorangehend für nötig gehalten haben und womit sie schliesslich auch ihre Einschätzung von Arbeitsfähigkeiten ausreichend unterstützt sehen. Medizinische Gutachter konkurrieren nicht mit dem Behandler um einen Patienten, sondern bearbeiten eine Fragestellung im Sinne definitiver Medizin, ohne Prokura zu einer Therapie, und sind gut beraten, die weniger leichte Haftungs- und Verantwortungsposition des Behandlers zu berücksichtigen.
Die Schulmedizin trennt Beschwerden (Symptome, Klagen) von Störungszeichen in klinischen Untersuchungsbefunden und Befunden aus Hilfsuntersuchungen der Medizin. Dies mit gutem Grund. Das Auffinden eines mit reklamierten Klagen assoziierten klinischen Störungszeichens oder anderer objektiver Befunde aus Hilfsuntersuchungen (soweit diese einen eigenstän­digen diagnostischen Rang haben) steigert die Wahrscheinlichkeit einer biologisch verstehbaren Ursache und ihrer ätiologischen Zuordnung. Der Umkehrschluss («finde nichts, hat nichts») ist bekanntlich falsch: Eine biologisch unverstanden gebliebene Symptomatik schliesst eine Erkrankung nicht aus, bleibt aber auf der Ebene des Möglichen. Auch fortlaufend wiederholte, jedoch biologisch unverstandene Klagen konstituieren also keine überwiegend wahrschein­liche versicherungsmedizinische Diagnose. Hierfür bedarf es eines positiven Belegs einer biologisch (idealerweise morphologisch) verstandenen Erkrankung. Selbst eine so etablierte Diagnose begründet für sich allein noch keine versicherungsmedizinische Leistung ausser­halb der Krankenversicherung, hier kommt es nun auf den behinderungsrelevanten Effekt an. Vorrangig entscheidend ist also der klinische Befund, aus dem sich eine reproduzierbare und in wesentlichen Lebens­bereichen wirkende Behinderung schlüssig, konsistent und jenseits des subjektiven Beschwerdevortrags ergeben muss. Die kürzlich hierzu ergangene bundesgerichtliche Rechtsprechung wird diesen Prüfungsaufwand sicherlich nicht senken.
Ein weiteres Missverständnis betrifft den sozialen Kontext der Versicherten. Die Regularien zu versicherungsmedizinischen Leistungen schliessen die Berücksichtigung von sozialen Kontextfaktoren (schwierige Familienverhältnisse, konflikthafte Partnerschaften, finanzielle Probleme, kultureller und ethnischer Hintergrund u.a.m.) aus. Hier handelt es sich also nicht um eine Ignoranz der Gutachter, sondern um eine Vorgabe des Gesetzgebers bzw. der Kostenträger.

Sozialmedizinische ärztliche Kompetenz stärken

Beachtung verdient schliesslich auch die Frage der ­Beurteilungsbasis von Arbeitsfähigkeiten, Invalidität und Integrität. Die Mehrheit schulmedizinischer Verfahren und Therapien beruht bekanntlich auf einer wachsenden Kenntnis zu Verlauf und Prognose von Erkrankungen und deren Behandlung. Demgegenüber bleibt der evidenzbasierte Stand des Wissens zum Einfluss von Gesundheitsstörungen auf die Arbeitsfähigkeit erheblich zurück. Auch sind die Kenntnisse zur ­Intra- und Interrater-Varianz gutachterlicher Einschätzungen beträchtlich lückenhaft. Allein das milliardenschwere Volumen von Versicherungsleistungen und die generelle volkswirtschaftliche Bedeutung der Versicherungsmedizin würden erwarten lassen, dass es an den Institutionen der akademischen Medizin eigenständige Einrichtungen der klinischen Versicherungsmedizin gibt, die sich der Aufgabe widmen, die derzeit vielfach noch arbiträre und empirische versicherungsmedizinische Bewertungsbasis mit den Methoden der wissenschaftlichen Medizin zu verbessern. Nicht zuletzt fehlt es auch an einer ausreichenden universitären versicherungsmedizinischen Lehre und Ausbildung. Ob die akademische Medizin ihrer sozialmedizinischen Aufgabe in einem Gemeinwesen mit grund­sätzlich hervorragenden sozialen Sicherungssystemen hier gerecht wird, darf durchaus einmal gefragt werden. Sich durch ein Vakuum der wissenschaftlichen Medizin herausbildende Verwerfungen sind wenig verwunderlich. Die Etablierung einer praxisorientierten versicherungsmedizinischen Fortbildung und die Erstellung von in der klinischen Praxis umsetzbaren, auf einer Versorgungsforschung basierenden Leitlinien wären geeignet, auch das derzeitige Spannungsfeld zu versachlichen und die sozialmedizinische ärztliche Kompetenz gegenüber den Kostenträgern zu stärken.
Die Grundlage jeder qualifizierten versicherungs­medizinischen Expertise sind eine solide erhobene Ana­mnese und ein gründlicher klinischer Befund durch einen klinisch erfahrenen Arzt. Sie unterscheidet sich also gar nicht von der klinischen Arbeit. Das vermeintlich komplexe versicherungsmedizinische Spezialwissen reduziert sich bei näherer Betrachtung auf eine überschaubare Grösse und ist einfach zu erlernen. Jeder erfahrene Kliniker kann ohne grosse Mühe ein guter Gutachter sein.
Alle sozialen Sicherungssysteme werden bekanntlich durch die Solidargemeinschaft getragen. Letztere, ­namentlich der Steuerbürger, wird durch sachlich schwach begründete Kontroversen innerhalb der Ärzte­schaft absehbar weniger zu beeindrucken sein als durch eine konstruktive Entwicklung im Interesse der tatsächlich Bedürftigen.
Felix Schneuwly
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