Kindersoldaten

Horizonte
Édition
2017/23
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.05594
Bull Med Suisses. 2017;98(23):749

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publié le 07.06.2017

Am Lido wird gekämpft. Knaben in Tarnanzügen bewachen die Uferböschung des Cassarete. Hitzige Gefechte sind um kleine Armeezelte und imaginäre ­Stellungen im Gange. Hinter den Stämmen der nahen Linden und Platanen des Parco Ciani lauern schwerbewaffnete Knirpse mit angeschlagener Waffe. Ihre bunten Plastikgewehre erinnern an Star Wars und andere Fantasy-Spektakel. Sie verschiessen lautlos Schaumstoffpfeile, dafür wird umso lauter gebrüllt, wenn vermeintliche Feinde einen Gegenangriff starten. Zwei junge Männer mit schwarz bemalten Gesichtern dirigieren das Getümmel. Sie rennen unermüdlich auf und ab, brüllen Befehle und feuern zögernde Krieger an. Wer da wen bekämpft, ist nicht klar, Hauptsache die filmenden Mamis bekommen viel Action zu sehen. Einmal sind auch die Eifrigsten müde, und alle versammeln sich um die Tische im Hafenrestaurant. «Tanti auguri per te», aufgetragen werden zwei Geburtstagstorten mit Zuckerglasuren in Tarnfarben und brennenden, Patronen nachgeformten Kerzen. Der Leader leitet die Zeremonie mit Hilfe seines Kofferradios, er feuert das Klatschen an, wenn die Geschenke an der Reihe sind, und orchestriert die bewundernden Ausrufe. Die Mamis in High Heels und eleganten Hosenanzügen unterbrechen ihren Smalltalk. Sie filmen im Halbkreis die geburtstägliche Inszenierung. Der zehnjährige Claudio reisst mit Hilfe seiner Kameraden das Geschenkpapier herunter. Mit Triumphgeheul wird der neue Dartblaster mit Zielfernrohr herumgereicht. Es gibt Nachfüllpakete mit bunten Pfeilen und Weitschusszubehör und Laserpistolen mit Nachtvisier. Die Spielwarenverkäufer haben gute Geschäfte gemacht. Die neuen Ballergeräte sind dank Trommelmagazin und Schussautomatik auf dem neusten Stand. Tortenstücke werden herumgereicht, die Kellner sammeln Papierfetzen und leere Schachteln ein, die Smart­phones verschwinden in den Gucci- und Prada-Täschchen. Die wenigen Papis, die zugegen sind, tragen Geschäftsanzüge mit Krawatte und trösten sich, ziemlich unbeteiligt, mit einem Apéro an Nebentischen. Vermutlich haben sie, dem familiären Frieden zuliebe, vorzeitig das Schlachtfeld ihrer Börsen- und Immobilienspekulationen geräumt. Mit der untergehenden Sonne ist es kühl geworden. Bald verladen sie ihre Fami­lien in die geparkten Rovers und Cherokees. Zurück bleiben die bezahlten Animatoren. Sie bündeln Zeltstangen, falten Militärblachen und sammeln Pa­tronen ein. Jemand muss schliesslich aufräumen.
Seit rund zehn Jahren verbietet das neue schweizerische Waffenrecht den öffentlichen Gebrauch von Imitationswaffen. Dazu gehören auch die altbekannten Chäpseli-Pistolen. Das neue Ersatzsortiment bietet ein reichhaltiges Arsenal an futuristisch aufgemotztem Aktionsspielzeug samt Militärklamotten. Das Geschäft boomt. Paintball für die Grossen und Dartblaster für die Kleinen. Die Pädagogen sind sich nicht einig. Ist das neue Kriegsspielzeug des Teufels, verwischt es Spiel und Realität, fördert es die Aggressionen, senkt es die Hemmschwelle? Oder haben wir es nur mit der harmlosen Fortsetzung des früher beliebten Federschmucks zu tun? Weniger gefährlich als Steinschleudern oder selbstgebastelte Pfeilbogen sind die Geräte allemal. Sind angesichts realer Kriegsbilder solche Imitate statthaft oder einfach nur geschmacklos? Gender Studies helfen da auch nicht viel weiter. Für Schwestern und Cousinen gibt es keine Sanitätsposten mit schicken Amputationssets. Zu Bubenträumen gehören das Anschleichen, der Zweikampf und der Überfall, egal ob mit einfachen Kartonröhren, Holzschwertern oder den Strahlenwaffen des Imperiums. Entscheidend ist wohl, ob es nahtlos mit elektronischen Kampfspielen wie Ego-Shootern weitergeht. Und wichtiger noch sind wohl die Vorbilder. Anstelle bezahlter Animatoren wären Eigenregie und mehr Fantasie gefragt. Kein erhobener Mahnfinger, dafü­r eigene Spiel- und Entdeckerfreude. Doch dafür fehlt vermutlich die Zeit. Es wäre interessant zu sehen, was aus den Kids in zehn Jahren geworden ist. Vielleicht werden einzelne Papis dafür sorgen, dass ihrem Söhnchen eine mühsame RS erspart bleibt. Schliesslich haben diese ihren Militärdienst, vor langer Zeit, am Lido schon geleistet.
erhard.taverna[at]saez.ch