Krankheit-Ursache

Horizonte
Édition
2017/19
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.05443
Bull Med Suisses. 2017;98(19):620–621

Affiliations
Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Mitglied FMH

Publié le 10.05.2017

Das Problem der Kausalität, das Aufsuchen von Ursache und Wirkung, spielt im Gesundheitsbereich eine besonders wichtige Rolle. Die spezifisch ärztliche Aufgabe der Therapie, als möglichst gründliche Korrektur von pathologischen körperlichen Zuständen und Störungen innerer Abläufe, erfordert notwendigerweise neben der Diagnose, das heisst dem Erkennen und Benennen der verschiedenen Krankheiten, auch die Erforschung der zutreffenden Ursache. Im praktischen Alltag werden der Arzt und die Ärztin selten auf die letzten Gründe des gerade zu behandelnden Leidens stossen, und dies ist auch nicht wirklich notwendig, denn das Abschätzen der Wahrscheinlichkeit verschiedener in Frage kommender Arbeitshypothesen, der sogenannten Differentialdiagnosen, reicht in der Regel aus, um zum Vorteil des Patienten aktiv zu werden. Das persönliche Gefühl, ursächlich zu behandeln, zum Beispiel bei der Verschreibung eines antibakteriellen Wirkstoffs bei bekannter Resistenzlage, darf aber nicht ­darüber hinwegtäuschen, dass man damit dem Begriff der Kausalität in strengem Sinne noch lange nicht gerecht wird. So können nachgewiesene Bakterienstämme bei einer Lungenentzündung durchaus eine Verunreinigung durch die Rachenflora darstellen, und es besteht immer die Möglichkeit, dass eine andere, vielleicht allergisch oder autoimmun bedingte Erkrankung der Atemwege vorliegt.

Der ausreichende Grund

Aus philosophischer Sicht wird die Sachlage noch komplizierter. Verschiedenste Denker haben sich mit dem Begriff der Kausalität eingehend beschäftigt. So macht beispielsweise Gottfried Wilhelm Leibniz, der Vater des binären Zahlensystems und damit der Informatik, den ausreichenden Grund zu einem allgemeingültigen Prinzip, das die Welt und ihre Erscheinungen streng rational begründet. Neben mechanischen, der körperlichen Bewegung dienenden und einer wissenschaftlichen Untersuchung zugänglichen Kräften postuliert er zusätzlich im Seelischen wirksame sogenannte finale, das heisst nach Sinn und Zweck strebende Ursachen ­aller Dinge. Die körperlichen und seelischen Elemente sind zusätzlich in eine göttlich vorbestimmte Welt­harmonie eingelassen, in der Leibniz dann auch die Letztbegründung alles Irdischen sieht. Würde eine solche Philosophie in der Medizin angewendet, könnte es durchaus berechtigt sein, gewisse Spätfolgen eines riskanten Abenteuers statt der Syphilis-Spirochäte dem schlechten Gewissen zuzuschreiben oder allgemein das ganze Übel gar als Strafe Gottes anzusehen. Die Probleme und Gefahren eines solchen Denkens mag den radikalen Empiristen David Hume bewogen haben, der Kausalität alle reale Existenz abzusprechen. Er erkennt in ihr nur noch einen Glauben, der sich in unserem Verstand einstellt, wenn wir zeit- und ortsnahe ­Begebenheiten wiederholt beobachten. Niemals ist es möglich, selbst bei genauster Kenntnis eines mutmasslichen Verursachers und aller Begleitumstände, dessen eventuale Wirkung in der Umwelt schlüssig vorauszusagen. Diese extreme Position würde, auf die Medizin bezogen, alle fachlichen Bemühungen streng genommen zu einer reinen Lotterie verkommen lassen. Auch wenn Hume unser Bedürfnis, Kausalitäten im Sinne nützlicher praktischer Prinzipien aufzufinden, durchaus gelten lässt, so spricht er ihnen gleichzeitig doch jeden Anspruch auf Wahrheit und Allgemeingültigkeit ab. Dies ist nicht mit dem uns eigenen Empfinden von Gewissheit vereinbar, das normalerweise unsere alltäglichen Erfahrungen und Tätigkeiten begleitet. Eine Welt rein zufälliger, sinnentleerter Tatsachen, ohne ­jeden inneren Zusammenhang, erscheint auch dem aufgeklärten Menschen als inakzeptabel. Hier setzt nun Immanuel Kant an, der gleichsam als Überwinder von Leibniz und Hume gilt, von metaphysischem und dogmatisch religiösem Denken einerseits, sowie überspitzter Empirie andererseits. In einem genialen Gedankengang beschreibt Kant die Kausalität als ein jeder sinnlichen Erfahrung vorausgehendes Vermögen unseres Verstandes, das allen Dingen und Umständen, so, wie sie uns als unsere Welt erscheinen, einen erkennbaren Grund zuweist. Um zu erfahrungsmässigen Erkenntnissen zu gelangen, ist die Anwendung der Verstandeskategorie der Kausalität, das heisst das Beurteilen aller Umstände angesichts von Ursache und Wirkung, zwingend notwendig. So gibt Kant den Naturwissenschaften und dem ihnen innewohnenden Wunsch ­exakter Begründbarkeit ein sicheres, notwendig gültiges, philosophisches Fundament. Das Prinzip von Ursache und Wirkung gilt aber nur im Erfahrungsbereich, und seine Anwendung ausserhalb des letzteren führt zu Fehlschlüssen und Irrtümern. Auf Fragen zu Herkunft, Sinn oder Zweckmässigkeit der Welt, nach Wirkkräften der Seele, oder nach einem göttlichen ­Einfluss auf alles Geschehen, gibt es keine gültigen Antworten. Diese metaphysischen Problemstellungen haben aber im Bereich des Glaubens oder als Arbeitshypothesen in der Wissenschaft dennoch ihre Bedeutung. So ermöglicht beispielsweise die Annahme einer zweckmässig geordneten Natur nicht nur eine systematische Botanik und Zoologie, sondern auch die angemessene Erforschung der Funktion menschlicher Organe und das ganze medizinwissenschaftliche Denken überhaupt.

Der goldene Mittelweg

Kants Theorien blieben nicht ohne Kritik, einigen ging er zu weit in seiner Ablehnung allen sicheren Wissens in religiösen und allgemein metaphysischen Bereichen, und für andere blieb er mit seinen, in strenger Notwendigkeit gültigen Erfahrungsprinzipien, wie das der Kausalität, immer noch zu stark in ebensolchem Denken verstrickt. Wie dem auch sei, der von unserem Philosophen beschrittene goldene Mittelweg zwischen Empirismus und metaphysisch geprägtem Rationalismus trifft sehr genau das ärztliche Selbstverständnis und dessen komfortables Gefühl der Sicherheit, über exakte Daten zu verfügen und auch ohne Letztbegründungen kausale Behandlungsstrategien anbieten zu können. Darüber hinaus dürfen der Arzt und die Ärztin sich in ihren Forschungszielen durchaus auch von Utopien leiten lassen, wie etwa der eines definitiven Siegs über alle Krankheiten oder jener des Erreichens dauerhafter Glückseligkeit des Menschen. Hingegen muss jeder Anspruch aufgegeben werden, Erkenntnisse über die wahre Natur solcher Ideale gewinnen zu können, oder gar die Möglichkeit zu haben, dieselben Realität werden zu lassen.
Schon die antiken Denker fanden im vernünftigen Mittelmass zwischen den Extremen den Ursprung unserer sittlichen Handlungen, und so darf die Medizin durchaus auch in ethischer Hinsicht der Philosophie Kants folgen, und seine Schriften, vorab die Kritik der reinen Vernunft, sollten eigentlich zur Pflichtlektüre ­jedes angehenden Arztes werden.
Dr. med. J.P. Schwarzenbach
Medicina generale FMH
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