Hippokrates, bloss Arzt und Lehrer?

Briefe / Mitteilungen
Édition
2017/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.05386
Bull Med Suisses. 2017;98(07):214–215

Publié le 15.02.2017

Hippokrates bloss Arzt und Lehrer?

Brief zu: Steinke H. Der hippokratische Eid. Schweiz Ärztezeitung. 2016;97(48): 1699–1701.
Angesichts schwieriger Grenzentscheidungen in der Medizin mehren sich in letzter Zeit Stimmen, die den Eid des Hippokrates wieder in den Mittelpunkt der medizinischen Ethik rücken. Zugleich wird Hippokrates auf die Begründung der modernen somatischen Medizin reduziert, da bekanntlich nur die Naturwissenschaften als wissenschaftlich gelten. Dabei wird vergessen, dass Hippokrates vor allem geisteswissenschaftlich Bedeutendes hinterlassen hat und in einem energetischen Welt- und Menschenbild wirkte. Dies wird ­besonders im Buch «Diätetik» des Corpus Hippocraticum deutlich, aber auch im Eid mit der heute schwer verständlichen Anrufung der vier göttlichen Kräfte, der Schweigepflicht für Psychisches und der Unterhaltspflicht für «Mitbrüder». In der Therapeutik bleibt insbesondere der Tempelschlaf immer noch unverstanden.
Die geisteswissenschaftliche Komponente und das energetische Weltbild des Heilens bilden den Schwerpunkt in Annie Berner-Hürbins Buch Hippokrates und die Heilenergie, einer Studie [1], die eben nachgedruckt wurde. Die Autorin, Sprachwissenschaftlerin und Psychotherapeutin, weist nach, dass ins hippokratische Gedankengut präsokratische Philosophie, sokratische Psychotherapeutik und Menschenkenntnis, besonders aber ein durch und durch energetisches Weltbild eingeflossen sind. Der Kern des hippokratischen Heilens ist eine auf den Menschen adaptierte Säfte- und Temperamentenlehre, modern gesagt eine Wandlungsphasen- und Konstitu­tionslehre. Dazu kommt die Lehre des dynamischen Durchgangs im Krankheits- und Heilungsprozess, der Phasenlehre. In der Diagnostik spielen die energetischen Leitkriterien Yin-Yang, Leere, Kälte, Tiefe, ferner Chronizität eine wesentliche Rolle. Dabei ergeben sich entsprechend dem Konzept der Achsenzeit zwischen 800 und 200 v. Chr. erstaun­liche Parallelen zur traditionellen indischen und chinesischen Medizin. Alles nur Geschichte und Philologie? Mitnichten! Auch in unserer Schulmedizin, besonders aber in der Komplementärmedizin, sind zahlreiche nicht naturwissenschaftliche, energetische Konzepte eingeflossen: der Gesamtausdruck des Kranken im diagnostischen Blick (gnome / lat. facies), der rechte Augenblick zum Eingreifen (kairos), das Gefühl für den Verlauf, das primum nil nocere, das Konzept des Schicksals, das Verständnis des Kranken in seinem Umfeld (diaitel), der psychosomatische Zusammenhang (Buch «Epidemien»), das Einfühlungsvermögen und last but not least der spirituelle Bezug (die vier göttlichen Kräfte). Mir ist wohler in einer Medizin, die neben der Naturwissenschaft auf das Vertrauen in eine ordnende und verbindende kosmische Kraft setzt und nicht nur auf irgendwelche neurobiologischen Surrogat-Parameter.