Zum Beispiel Lukas Fierz’ Reportagen Begegnungen mit dem Leibhaftigen

Die Macht des Arztes als Autor

Horizonte
Édition
2017/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.05319
Bull Med Suisses. 2017;98(09):295

Affiliations
Dr. med., Geriater, Schriftsteller, Mitglied FMH

Publié le 01.03.2017

Wenn Ärzte (und Ärztinnen) schreiben, tun sie es aus dem Fundus selbst erlebter Geschichten, die oft kaum vorstellbar sind und doch wahr in ihrer ganzen Unvorstellbarkeit. Lukas Fierz hat eine Sammlung von Reportagen aus dem Angelpunkt seiner neurologischen Praxis vorgelegt [1], viele sind bestechend in ihrer parabelhaften Dramatik, und seine Obsession ist auf jeder Seite spürbar – sein heiliger Furor im medizi­nischen Sumpf von Bern-Seldwyla: der Zorn auf Ungerechtigkeiten, die Menschen widerfahren können, auf die Selbstgerechtigkeit von Institutionen und Kollegen, auf die absurde, manchmal heillose Eigenwelt der institutionellen Medizin [2]. (Auch Walter Vogt, ein anderer Rebell, hat darüber geschrieben.)
Wie Donnerrollen kommen die fulminanten Erzähltexte daher, ihre analytische Schärfe ist schneidend, macht sie notwendig: Man liest, was man nicht glaubt, und man erschrickt, worüber geschwiegen wird. Jeder Text, der Verborgenes ans Licht zerrt, ist notwendig.
Das Donnerrollen ist mächtig, es dröhnt für den versehrten, für den entrechteten Menschen im Würgegriff der Institutionen – aber es rollt auch für die Selbstgerechtigkeit des Autors, der immer auf der Seite des Guten steht, und gegen die Anderen im Bannkreis des leibhaftig Bösen, die wortmächtig zu Feindbildern werden: die medizinischen Karrieristen.
Der Revierarzt. Die Jünger von Professor Vogel (den jeder kennt, obwohl jede Ähnlichkeit zufällig ist) – die Psychosomatiker, die als human-ganzheitliche Idioten benutzt werden.
(Die Reportagen sind keine fiktiven Satire-Texte, es sind Nachprüfungen von authentisch Geschehenem: Wer gemeint ist, ohne gemeint zu werden, ist auch mit einem Fantasienamen genauso gemeint.)
Öffentliches, literarisches Schreiben ist dazu da, Unsichtbares sichtbar zu machen, dazu braucht es Autoren wie Lukas Fierz – es ist nicht dazu da, um mit der Macht des Wortes abzurechnen. Abrechnungsworte schwächen den Glanz von Geschichten, die ohne hämische Seitenhiebe spektakulär genug sind.
(Ein starker Erzähltext braucht keine Wertung und keinen persönlichen Triumph des Autors; das Erzählte selbst muss stark genug sein.)
Als Ärzte haben wir Macht, die ohne dauernde Reflexion nicht zu bestehen ist, keiner weiss das besser als Lukas Fierz. Und wenn wir als Ärzte schreiben, haben wir die Macht des Wortes dazu: Auch diese Macht ist ohne Reflexion und Selbstzensur schwer zu bestehen.
Der Zweitberuf ist die kritische Instanz des ersten. Dieser denkwürdige Satz von Mani Matter ist in Lukas Fierz’ Reportagen überall spürbar – nur in Bezug auf die eigenen Ressentiments nicht.
Dr. med. Peter Weibel
Domicil Baumgarten
CH-3018 Bern
1 Fierz L. Begegnungen mit dem Leibhaftigen. Reportagen aus
der heilen Schweiz. Hamburg: Tredition Verlag; 2016.
2 Porz R. Ein teuflisch gutes Büchlein. In: Schweiz Ärztezeitung. 2016;97(33):1128.