Forensik

Horizonte
Édition
2017/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.05228
Bull Med Suisses. 2017;98(05):172

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publié le 31.01.2017

Christine Bartsch

Das Gefühl der Kälte

Zürich: Orell Füssli Verlag; 2016.
256 Seiten. 26.90 CHF.
ISBN 978-3-280-05610-3
Der Verlagstrailer auf YouTube wirbt für die Buchausgabe Das Gefühl der Kälte von Christine Bartsch. Leichen, Mundschutz und Skalpell in rascher Folge, musikalisch untermalt. Auf dem letzten Bild beugt sich die Ärztin über den chromglänzenden Seziertisch: Nichts entgeht ihr und Was findet sie bei der Analyse? lauten die Zwischentitel. Die Fachfrau weiss wovon sie spricht. PD Dr. Christine Bartsch ist Rechtsmedizinerin und leitete zuletzt die Abteilung für forensische Medizin und Bildgebung am Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich. Gemäss einem Interview im Tagesanzeiger vom November 2016 –«Die verrücktesten Leichen gab es im Kreis 4»– hat sie in ihrem Berufsleben 3000 Leichen geöffnet, Hirne zerschnitten und stillstehende Herzen abgetastet. Ihr Buch erzählt in zwölf Kapiteln von den Fällen der Rechtsmedizinerin Charlotte Fahl. Kurzporträts von Opfern und Tätern, Geschichten, die über den Alltag dieses Alter Ego der Autorin miteinander verbunden sind. Realistisch, was die konkrete Arbeit an Organen und Geweben, Beschreibungen der Tatorte und die Zusammenarbeit mit Justiz, Polizei und weiteren Fachdisziplinen betrifft, fiktional, wenn es um die Mitarbeiter geht. Das Metier ist vielseitig aber auch stressig, die 70-Stunden-Woche hektisch, die organisatorischen Aufgaben und die Gutachten belasten bis an die Grenze des Zumut­baren. Rund 15 tödliche Gewaltdelikte, 600 Obduktionen und 900 Legalinspektionen fallen jährlich am In­stitut für Rechtsmedizin an. Das Buch schildert die Folgen ­einer Kindsmisshandlung, einer Vergiftung, ­eines vertuschten Mordes, einen Behandlungsfehler oder einen Verkehrsunfall, das Panorama menschlicher Dummheiten und Grausamkeiten ist unfassbar weit. Der Schreibstil ist unkompliziert, gelegentlich reisserisch: «Die Kehle hat er ihr eiskalt durchgeschnitten, dieses fiese Schwein.» Bartsch kann sehr gut erzählen, die Lektüre wirkt authentisch, ist spannend und bietet beste Unterhaltung. Das Finale überrascht, mehr sei nicht verraten.
Spätestens mit Simon Becketts Bestseller Die Chemie des Todes und den TV-Serien CSI Crime Scene Investi­gation und Bones ist die Forensik in der Popkultur ­angelangt. Die literarische Rechtsmedizin und ihre ­filmischen Umsetzungen spielen eine zunehmend bedeutendere Rolle in der konsumierten Thrillerlandschaft. Ähnlich wie die «Köperwelten» von Gunter von Hagen hat die forensische Wissenschaft in ihrer popularisierten Form mit einem über lange Zeit gültigen Tabu gebrochen. Seit Beckett die Body Farm in Ten­nessee, eine Untersuchungsstätte mit verwesenden Leichen aller Stadien, bekannt machte, strömen auch Schaulustige an diesen Ort oder vermachen gar ihren Körper für Verwesungs-Experimente. Forensik als mediales Ereignis hat die Berufssparte auch unter Medizinstudenten attraktiv gemacht. Das frühere Nebenfach zieht heute, zumindest in den USA, ungewohnt viele Bewerber an. Die meisten Rechtsmediziner im Fernsehen sind gut aussehende Schauspielerinnen. Sex and Crime ist auch auf dieser Bühne eine unwiderstehliche Verlockung. Nicht immer ist der Sachbuch-Krimi von einer Insiderin verfasst. Die gesammelten Fälle von Christine Bartsch sind für Laien ein Glücksfall, wissenschaftlich informativ, die Begleitumstände, Knatsch im Institutsbetrieb und das Privatleben der Charlotte Fahl wecken das Interesse an einem Spezialgebiet, das in unserer Gesellschaft unentbehrlich geworden ist.
Die Autorin wollte Chirurgin werden, forschte als ­Humangenetikerin, arbeitete im Spital und als Hausärztin, bis sie in der Rechtsmedizin alle naturwis­senschaftlichen Disziplinen fand, die ihr definitiv zu­sag­ten. Nach 16 Jahren Forensik hat sie, 50-jährig, im norddeutschen Bremerhaven eine neue Herausforderung am Institut für Polar- und Meeresforschung gefunden.
erhard.taverna[at]saez.ch