Ange-hörige

Horizonte
Édition
2017/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.05196
Bull Med Suisses. 2017;98(05):170

Affiliations
Dr. med., Mitglied FMH

Publié le 31.01.2017

«Im klinischen Alltag sehen ÄrztInnen und Pflegekräfte den Angehörigen nicht immer in einer differenzierten Rolle. Am ehesten fungiert er als Mitläufer, der sich passiv verhält oder seine Ängste querulatorisch umsetzt. Noch schlimmer, wenn er mit Internet-basiertem Wissen oder mit penetranter Klebrigkeit das betreuende Team andauernd bedrängt.
Der nur scheinbar ‘ideale Angehörige’ ist hingegen seltener anzutreffen: Er passt sich den arbeitsspezifischen Bedürfnissen des Personals an, respektiert dessen Auto­rität und unterwirft sich widerstandslos allen Anord­nungen und Massnahmen. Er verzichtet auf ­störende Anliegen, zeigt Vertrauen und Dankbarkeit, antwortet umfassend, wenn er gefragt wird, sagt selbst aber nichts, wenn er nicht gefragt wird, und ist mit dem Mass an Kommunikation zufrieden, das man ihm zubilligt. Dieser ‘Ideal-Angehörige’ wäre allerdings kaum zu ertragen.»
(Geisler, Linus: Feind, Freund oder Partner? – Angehörige im Krankenhaus, DR. MED. MABUSE, Nr. 167, Mai/Juni 2007, S. 23–26, www.linus-geisler.de)
In jenen fernen Zeiten, als das Verfalldatum der ehernen Ehen noch durch die Pistache-Formel «bis dass der Tod euch scheidet» amtlich und kirchlich verbrieft wurde, war es für Spitäler oder Arztpraxen meistens kein Problem, die nächsten Angehörigen von Verunfallten oder Kranken zu ermitteln und notfalls zu benachrichtigen. Den Familien wurde auch ohne ausdrückliche Erlaubnis der Betroffenen mitgeteilt, welche Diagnosen und Prognosen gestellt werden konnten und welche therapeutischen Ratschläge zu befolgen waren. Als Oberarzt wurde ich deshalb einmal angeklagt, die Scheidung eines schon zuvor zerstrittenen Paares verursacht zu haben. Ich ­instruierte der Ehefrau eine Diät für Zuckerkranke, nachdem wir bei ihrem Mann einen leichten Altersdiabetes diagnostiziert hatten. Das wollte er seiner Gattin verschweigen, weil er fürchtete, inskünftig nicht mehr als vollwertiger Mann zu gelten. Ich entging einer Verurteilung nach Ermahnung durch den Untersuchungsrichter, das Arztgeheimnis besser zu beachten.
Nach 1968 wurde immer weniger geheiratet und häu­figer geschieden, die Monogamie als verklemmtes Verhalten verlacht: «Wer zweimal mit derselben pennt, ­gehört schon zum Establishment.» LAP war die Abkürzung für die Leucin-Aminopeptidase, bald aber auch für Lebensabschnittspartner, die sich je nach ­Gefühls- und Finanzlage weiterhin als wichtige Angehörige der EX betrachteten. Die berechtigte Person in der Patchworkfamilie konnte oft erst nach Anhörung einer zerstrittenen Diskussionsgruppe ermittelt oder durch behördlichen Entscheid legitimiert werden.
Ange-hörige im akustischen Sinn sind vielerorts die zwischengelagerten Patienten und Patientinnen in Wartezonen, wo sie die Krankengeschichten der Mitleidgenossen oder die Telefonate und Auseinandersetzungen des Personals live mitverfolgen und anhören können. Auch Begleitpersonen werden so zu Zeugen mancher delikater Gespräche in den Wartezimmern, Korridoren, Aufzügen und Cafeterias der «Gesundheitszen­tren».
Allerdings sind wir es uns ja schon längst gewohnt, auch in den öffentlichen Verkehrsmitteln privaten Kram mitzubekommen, wenn die mobilen Telefone allüberall an den Ohren kleben. Viele Banalitäten muss man buchstäblich in einem Zug er-fahren. Hörig waren einst die Leibeigenen, heute sind es alle Dezibelsüchtigen, die ohne stimulierende Musik an Entzugserscheinungen leiden. Ange-hörige werden jene Mitreisenden, die sich endlosen Klatsch oder Bumm-Bumm anhören müssen.
Der Begriff Angehöriger wurde von den Juristen ausführlichst definiert. Für den medizinischen Alltag vereinfacht mag genügen:
Genetische Angehörige sind die DNA-Verwandten
Familienangehörige sind die Partner der Verwandten und deren Nachkommen
– Zu den emotionalen Angehörigen zählen alle engen Freunde und die in Vereinen, Betrieben und Klubs sozial verknüpften Mitglieder.
Akustische Ange-hörige wären die neugierigen oder unfreiwilligen Zuhörer von Lautäusserungen jeglicher Provenienz, doch ist das wohl eine ungehörige Sprachausschöpfung. Lassen wir es. Aufhören!
Dr. med. Bernhard Gurtner
Eggstrasse 6
CH-8620 Wetzikon
gurtner.bernhard[at]
bluewin.ch