Leben mit bipolarer Störung - Buchkritik

Horizonte
Édition
2017/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.05167
Bull Med Suisses. 2017;98(0102):46–47

Affiliations
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinik St. Pirminsberg, Pfäfers, Mitglied FMH

Publié le 10.01.2017

Thomas Melle

Die Welt im Rücken

Berlin: Rowohlt; 2016.
352 Seiten. 28.90 CHF.
ISBN 978 3 871-34170 0
So ungeschminkt haben wir es noch nicht gelesen. Dieses Buch ist ganz knapp am Deutschen Buchpreis 2016 vorbei geschrammt. Es schreit uns an: Leute, das ist eine Krankheit, eine Krankheit! So ist das, wenn man psychotisch ist, es ist die Innensicht einer Psychose. Thomas Melle schreibt in Die Welt im Rücken über seine Krankheit, die bipolare Störung. Er schreibt über sich, als verzweifelter Mensch, als gefallener Mensch, als kranker Mensch, als schreibender Mensch. Er schreibt rastlos und wütend, traurig und suchend: Krankheit als Teil des Menschseins, Zerfall als Fixpunkt seiner Existenz. Und er schreibt ohne Schuldzuweisung, er schreibt reflektiert und er schildert brillant. Jeder Psychiater sollte dieses Buch gelesen haben, jeder, der in der Psychiatrie arbeitet, aber auch jeder, der mit psychisch kranken Menschen in Kontakt kommt, jeder, der psychisches Kranksein verstehen will oder verstehen sollte. Das sind auch Juristen und Politiker. Denn die bipolare Störung – wie auch die Schizophrenie – sind häufig. Die betroffenen Menschen werden nach wie vor stigmatisiert und ausgegrenzt, die Sterblichkeit ist hoch und die Erkrankungen sind volkswirtschaftlich mit am teuersten.

Die «Scheiss-Krankheit» zerstört und macht ohnmächtig

Thomas Melle schreibt von seinem Ausgeschlossensein aus der Gesellschaft: vom Verlust der Freunde, vom Verlust seiner Arbeit, vom Verlust der Wohnung, vom Verlust jeglicher Verantwortung, von Freiheit und Selbstbestimmung. Wie er zurück bleibt, ein abgemagertes Häuflein Elend, hungrig, vewahrlost, voll Scham und Schuldgefühle. Auch er macht, wie viele Kritiker der Psychiatrie, wie manche Kritiker des angeblich ­repressiven Staates, Schuldzuweisungen an die Gesellschaft, an die von Pharmakonzernen und finanziellen Interessen unterwanderte Medizin – doch er reflektiert diese, verwirft sie und kommt zum Ergebnis: Es ist die «Scheiss-Krankheit», die zerstört und ohnmächtig macht. Er anerkennt das Leiden seiner Freunde, der Partnerin, der Angehörigen, der Menschen, die es ­eigentlich gut mit ihm meinen. Er reflektiert und beschreibt, wie er randaliert, rücksichtslos stört, exzessiv Drogen konsumiert, Sexualität auslebt, Beziehungen sabotiert und Hilfe verunmöglicht, alles im Rausch der Krankheit, um dem grenzenlosen Antrieb, der Selbstüberhöhung Raum zu verschaffen.

Auf die Psychose folgt Ernüchterung

Als von der Krankheit Gezeichneter hat er recherchiert, er ist einer jener Patienten, die über ihre Krankheit besser Bescheid wissen als viele Behandler. Wenn er psychotisch ist, dann trickst er Behandler, Richter, Betreuungspersonen aus, entzieht sich. Rein in die Klinik, raus aus der Klinik, Berichtsbeschlüsse angezweifelt, Massnahmen verweigert oder davor geflohen. Wenn er nicht psychotisch ist, dann ernüchtert ihn dies: Das wissen über den Wahn und die verlorenen Jahre, die Unergiebigkeit in der Suche nach Ursachen, die Notwendigkeit einer dauerhaften Behandlung mit all den, teilweise entstellenden Nebenwirkungen der Medikamente, seine zunehmend fragmentierte Iden­tität, die schon durch eine schwierige Kindheit bedroht war.
Das Buch ist chronologisch gegliedert in die mitunter phänomenologische Beschreibung seiner manisch- psychotischen Phasen, die teilweise mehr als ein Jahr bestanden. Auch über depressive Phasen, die auf die Manien folgten, berichtet er. Aber trotz deren langer Dauer eher lapidar, mit wenigen Worten. Vielleicht lässt sich nicht viel berichten, wenn man keinen Antrieb hat, wenn man kaum etwas spürt, wenn die Zeit stillsteht. Ganz anders das exzessive Leben in einer wahngedeuteten Welt mit Grössen-, Beziehungs- und Verfolgungsideen bis hin zu Wahrnehmungsstörungen. Grenzenlos, rücksichtslos, verstörend selbstzerstörend. All das spielt im avantgardistisch-intellektuellen Umfeld von Literatur, Musik und Theater. Ein Umfeld, dem er zugehören will, das ihn feiert, ausstösst und zuletzt doch wieder aufnimmt. Immer wieder verbindet er seine praktischen und existenziellen Erfahrungen mit den wissenschaftlichen und theoretischen Erklärungen über Ursachen, Diagnose, Art der Erkrankung, Behandlungsmöglichkeiten.

Eine wirksame Behandlung ist schwierig

Dabei bleibt es eine psychiatrisch-theoretische Frage, ob es sich wirklich um eine manisch depressive Erkrankung, eine schizoaffektive Störung oder eine ­paranoide Schizophrenie handelt; die Übergänge sind fliessend; Krankheitsverlauf und Prognose können nie genau vorhergesagt werden. Doch klar ist, es handelt sich um Krankheit, auch wenn die Schwelle zum Normalen graduell verläuft und schwer erkennbar ist. Und klar ist auch in den meisten Fällen die Behandelbarkeit. Doch einer wirksamen Behandlung stehen viele Widerstände entgegen. Schwierig ist schon das Erkennen der Erkrankung: Der Betroffene kann das Krankhafte wegen seiner Erkrankung nicht erkennen. Das Umfeld sieht darin Haltlosigkeit, Bösartigkeit, Dissozialität, Sucht, Kriminalität. Der Kranke trifft auf die gleichen Vorurteile und Urteile wie vor Jahrhunderten. Auch das Rechtssystem ist davon infiziert. Autonomie und Selbstbestimmung werden missgedeutet und Krankheit negiert oder bagatellisiert. Wo der demente und unheilbar kranke Mensch schnell durch Gerichte seiner Rechte und Pflichten entbun-den und «versorgt» wird, wird der manisch-depressive, bipolare und psychotische Mensch als autonomer Herr seines Willen betrachtet, obwohl gerade er behandelt werden könnte und die Chance hat, gesund oder wenigstens nicht ausgestossen zu werden. Das Zugeständnis einer falsch verstandenen Autonomie führt zur Kehrseite einer ­institutionalisierten Verantwortungslosigkeit den Betroffenen und ihren Angehörigen gegenüber. Thomas Melle beschreibt ohne anzuklagen, wie lange es dauert, zu genesen. Er schildert falsche, würdelose Behandlungen, aufgezwungene bürokratisch-unpersönliche «Hilfeleistungen», viel zu frühe Entlassungen verbunden mit einem erneuten Teufelskreis aus Absturz und Zerstörung. Er weiss sich keinen Rat und fragt «doch wie soll man es anders lösen?». Er betrauert den Verlust von Lebensjahren, den schleichenden Verfall bis hin zu Obdachlosigkeit, Armut, ­Delinquenz und Suizid. Vielleicht hätte eine frühe, ausreichend lange und gute Behandlung nach Behandlungsleitlinien ihm vieles erspart. Doch wie umsetzen, wenn der Betroffene dagegen opponiert. Schliesslich hilft ihm die Liebe – und Lithium. Jenes akzeptiert er, auch weil ein Arzt ihm vermittelt, dass daran die Pharmaindustrie nicht viel verdient und durch diese Erklärung sein Misstrauen gegenüber der Medikation ab­geschwächt wird. Zuletzt bleiben der faszinierende phänomenologische Blick, die Ohnmacht und viele Fragen. Mich als Psych­iater regt das Buch zum Wei­terdenken an. Ich sehe ­darin meine Patienten, die ­vielleicht nicht sprachlich so gewandt, aber oft ebenso so klar und spannend, ­offen und ehrlich mir als Arzt begegnen. Jedes mal neu und anders.
Michael Kammer-Spohn
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
M.A. Philosophie
St. Gallische Psychiatrie-Dienste Süd
Klinik St. Pirminsberg
Klosterweg
CH-7312 Pfäfers
Michael.Kammer-Spohn[at]psych.ch