Vergütung von Arzneimitteln auf oder ausserhalb der Spezialitätenliste

Revision Art. 71 a/b KVV

Tribüne
Édition
2017/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2017.05084
Bull Med Suisses. 2017;98(04):122–125

Affiliations
a Dr. med., Facharzt für Herz- und thorakale Gefässchirurgie, Leiter Vertrauensärztlicher Dienst KPT/CPT, Mitglied FMH; b Rechtsanwalt, EMBA UZH,
Leiter Rechtsdienst KPT/CPT

Publié le 24.01.2017

Einleitung

Révision de l’art. 71 a/b OAMal

En 2011, l’OFSP a mis en vigueur une ordonnance (art. 71 a/b OAMal) qui règle le remboursement de médicaments admis ou non dans la liste des spécialités (LS) et utilisés pour d’autres indications que celles autorisées ou prévues par la limitation.
Suite à des critiques lors de l’application et à une évaluation du «Büro ­Vatter», l’OFSP a été contraint de réviser ces dispositions. Nous souhaitons ci-après nous prononcer à ce sujet:
L’art. 28 al. 3 let. g introduit une obligation de transmettre sans but précis, ce qui est à notre sens illicite.
A l’art. 71a OAMal, une limite de prix de 90% est introduite, ce qui n’est pas envisageable pour plusieurs raisons.
La possibilité pour l’assureur de recourir contre un refus de prix du titulaire de l’autorisation continue de faire défaut, tout comme l’obligation de livrer.
Des questions demeurent également concernant la règlementation relative au prix de référence et à l’importation de médicaments (art. 71b et art. 71c).
Le nouvel art. 71d est contraire au système et doit donc être rejeté.
S’il est nécessaire de réviser l’art. 71 a/b OAMal, la direction prise n’est ­cependant pas la bonne!
Mit dem Urteil 9C_334/2010 vom 23.11.2010 (BGE 136 
V 395) hat das Bundesgericht Stellung bezogen zur 
Kostenübernahme von Medikamenten für seltene Krankheiten ausserhalb der Spezialitätenliste (SL) und der dabei gebotenen Wirtschaftlichkeitsprüfung. Insbesondere äusserten sich die Bundesrichter zu den Vor­aussetzungen, welche für eine Abgeltung erfüllt sein müssen:
– Die Kosten für ein Arzneimittel ausserhalb der zugelassenen Indikationen respektive der SL-Limita­tionen können ausnahmsweise übernommen werden, wenn ein Behandlungskomplex vorliegt oder für eine Krankheit, die für die versicherte Person tödlich verlaufen oder schwere und chronische 
gesundheitliche Probleme nach sich ziehen kann, und wenn wegen fehlender therapeutischer Alternativen keine andere wirksame Behandlungs­methode verfügbar ist; diesfalls muss das Arzneimittel einen hohen therapeutischen (kurativen oder palliativen) Nutzen haben.
– Für die Zulassung eines Off-Label-Use kann aber nicht jeglicher therapeutische Nutzen genügen, könnte doch sonst in jedem Einzelfall die Beurteilung des Nutzens an die Stelle des gesetzlichen Listensystems treten und dieses unterwandern.
– Da das gesetzliche System auch der Wirtschaftlichkeit dient, muss insbesondere vermieden werden, dass durch eine extensive Praxis der ordentliche Weg der Listenaufnahme durch Einzelfallbeurteilungen ersetzt und dadurch die mit der Speziali­tätenliste verbundene Wirtschaftlichkeitskontrolle umgangen wird (alle Erw. 5.2).
Im Nachgang zu diesen wegweisenden Erwägungen setzte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) per 1. März 2011 Art. 71a/b KVV1 in Kraft und regelte damit die Vergütung von Arzneimitteln auf oder ausserhalb der SL bei Anwendung ausserhalb der Indikation und Limitation auf Verordnungsstufe.
Von Beginn weg war die Umsetzung von Art. 71a/b KVV aus zwei Gründen schwierig:
– Die Nutzenbewertung durch die Vertrauensärzte der Krankenversicherer (KV) konnte sich zu Beginn auf keine Erfahrungswerte und anerkannte Kriterien stützen. Iterativ wurden deshalb solche Instrumente entwickelt, die heute bei der Beurteilung von allen Stakeholdern verwendet werden.
– Die Preisfestsetzung durch die KV ist für die Zulassungsinhaber (ZI) nicht verpflichtend. Wohl kann der Versicherer die Höhe der Abgeltung entsprechend der Nutzenbeurteilung festlegen, der ZI kann jedoch nicht gezwungen werden, sein Produkt für diesen Preis zu liefern. Entgegen den Bestimmungen des KVG (Tarifschutz, Art. 44 KVG) kann sich somit für den Patienten die Situation ergeben, dass es bei einer Pflichtleistung im Grundversicherungs­bereich zu ungedeckten Kosten kommen kann.
Im Nachgang zu einer Evaluation des «Büro Vatter»2 hat das BAG die Art. 71a/b KVV überarbeitet und diesen Entwurf nun in die Vernehmlassung geschickt. Im Folgenden möchten wir die vorgeschlagenen Änderungen aus unserer Sicht diskutieren.
Eine Gegenüberstellung der aktuell gültigen und der auf 1. Januar 2017 vorgesehenen Fassung ist online abrufbar (siehe Fussnote 1).

Würdigung

Neu Art. 28 Abs. 3 Bst. g KVV – 
Big Data ohne Plan

Die Verwaltung hat ihr Handeln nach dem Gebot der Verhältnismässigkeit auszurichten, das Eingreifen des Staates sollte auf das Notwendige beschränkt sein.
Diese Vorgabe ist mit Art. 28 Abs. 3 Bst. g KVV unserer Ansicht nach verletzt:

– Datenlieferung:

– Es wird eine Datenbeschaffung ohne klare Zweckbindung und Auftrag implementiert.
– Es sei daran erinnert, dass eine «Datensammlung auf Vorrat» unzulässig ist (Art. 4 Abs. 2 DSG).
– Eine Datensammlung ohne vorher festgelegte Auswertungsparameter ermöglicht eine missverständliche Interpretation.
– Das BAG hat die Gelegenheit verpasst, die zunehmende Off-Label-Verwendung (OLU) von innovativen Medikamenten systematisch zu erfassen, wie dies in anderen Ländern umgesetzt ist [1].

– Höhe der Vergütung

– Zwischen KV und ZI bestehen Verträge über die Preise für Medikamente, welche unter den Bedingungen von Art 71a/b KVV verwendet werden. Diese Verträge sind legitim und geben Rechts­sicherheit in einem durch das KVG nicht ab­gedeckten Rechtsverhältnis (ZI sind keine Leistungserbringer im KVG).
– Zwingt man die KV, die Höhe der Vergütung offen­zulegen, wird die vertraglich festgelegte Vertraulichkeit über den Vertragsinhalt verletzt. Eine solche Bekanntgabe ist kartellrechtlich problematisch, da gestützt auf das Öffentlichkeitsprinzip von Mitbewerbern eine Veröffentlichung dieser Daten verlangt werden kann.

Neu Art. 71a KVV – Regression toward the mean

Der rev. Art. 71a KVV regelt die Übernahme der Kosten eines Arzneimittels der SL ausserhalb der genehmigten Fachinformation oder Limitierung.
Die Änderung bezüglich Art. 71a KVV sieht zwei gewichtige Veränderungen vor: die Festlegung einer Obergrenze von 90% des Fabrikabgabepreises (FAP) der SL als Höchstpreis und die Festsetzung des FAP als Richtpreis. Beide Änderungen sind für uns nicht sinnvoll:

– Preisobergrenze von 90%

– Die bisherige Rabattierung korreliert mit der Nutzenbewertung durch die Vertrauensärzte: Ein ­Hoher Nutzen («A») wird mit einer kleineren Rabattierung als ein Mässiger Nutzen («B») versehen, wogegen ein Potentieller Nutzen («C») keine unmittelbare Abgeltung durch die KV auslöst, sondern eine initiale Kostenübernahme durch den ZI mit nachfolgender gemeinsamer Beurteilung des Therapieerfolgs (pay for perfomance).
– Die Einführung einer Preisobergrenze von 90% wird die bisherige Rabattierung dahingehend verändern, als dass der neu eingeführte, absolute Wert als Referenzpunkt für die zukünftige Rabattierung dienen wird. Das heisst, dass in den meisten Fällen die Rabatte kleiner ausfallen werden als heute.
– Wir meinen, diese Festsetzung einer Höchstgrenze mit einem absoluten Wert ist auch kartellrechtlich problematisch, da das BAG damit in­direkt eine Preisabsprache «verordnet».

– Fehlende Eskalation

– Die neu vorgeschlagene Sprachregelung («Nach Absprache mit dem Zulassungsinhaber bestimmt er [der Versicherer] die Höhe der Abgeltung») setzt unserer Meinung nach explizit eine Einigung zwischen KV und ZI vor der Festlegung des Preises voraus. Die Formulierung ist auch dahingehend unscharf, dass nicht deutlicher ausgedrückt wird, dass die Hoheit der Preisfestlegung beim KV liegt.
– Es wäre sachdienlicher gewesen, folgenden neuen Abs. 3 einzufügen: «Kann keine Absprache über die Höhe der Vergütung erzielt werden, so geht der Versicherer in Vorleistung und beschreitet unter Abtretung der Ansprüche durch den Versicherten den bestehenden Rechtsweg.»

– Fehlende Lieferpflicht des Zulassungsinhabers

– Wir sind der Meinung, dass es der Verordnungsgeber unterlassen hat, die Lieferpflicht des ZI klar zu regeln.
– Er könnte dies problemlos durch eine Ergänzung in Art. 65 KVV anbringen, welche den Zulassungsinhaber verpflichten würde, bei Registrierung oder Aufnahme bzw. Einreichung eines ­Gesuchs um Aufnahme eines Medikamentes in die SL die Preisfestsetzung nach Art. 71a–d KVV anzuerkennen, vorausgesetzt, diese ist nicht willkürlich.

– Fabrikabgabepreis

Bei den ZI wie auch bei den KV würde die Einführung des FAP einen zusätzlichen Aufwand generieren, da die heutigen ERP-Systeme auf dem Publikumspreis basieren.

Neu Art. 71b KVV – Mein Freund Google®

Art. 71b KVV regelt die Übernahme der Kosten eines vom Institut zugelassenen und nicht in die SL aufgenommenen Arzneimittels.
Folgende geplante Revisionen sind unserer Meinung nach abzuändern:

– Referenzpreise im Ausland

– Referenzpreise im Ausland sind oft «Schaufenster–Preise» und widerspiegeln nicht den wahren Preis, den der Leistungserbringer (Resp. KV) bezahlen muss. Oft bestehen auch im selben Land unterschiedliche Verkaufspreise, wie das Beispiel der USA anschaulich demonstriert:
– Medicare und Medicaid, die staatlichen Sozial­versicherungen, sind gesetzlich verpflichtet, den Herstellerpreis zu bezahlen.
– Die privaten Versicherungen (wie Aetna, United Health uam.) können die Preise verhandeln, resp. sie kaufen die Medikamente über Grosshändler ein, welche markante Rabatte durchsetzen können (siehe Abb. 1) [2].
Abbildung 1: Gesamte Ausgaben für Medikamente, USA 2006–2015.
– Ein aktuelles Beispiel stellt dieses Problem dar (siehe Tab. 1).
Tabelle 1:Beispiel Osimertinib (generic name).
LandPreisBemerkung
USA12 600 USD
(12 239 CHF)Therapiekosten pro Monat bei 80mg pro Tag
United Kingdom4722,30 GBP
(5953 CHF)Therapiekosten pro Monat bei 80mg und 40mg pro Tag
«The company has agreed a patient access scheme with the Department of Health. If osimertinib had been recommended, this scheme would provide as simple ­discount to the list price of osimertinib with the discount applied at the point 
of purchase or invoice. The level of the discount is commercial in confidence.»
Victoria-Apotheke, Zürich10 106.60 CHFTherapiekosten pro Monat für 80mg pro Tag
Herstellerangebot an KPT9500 CHFBegründung der Zulassungsinhaberin: Bisher haben wir alle Vereinbarungen 
mit Krankenkassen auf Basis FAP von 9500 CHF abgeschlossen. Im Sinne der Gleichbehandlung können wir nicht für jede einzelne Krankenkasse einen unterschiedlichen FAP ansetzen. 
(Anmerkung: 9500 CHF ist der beim BAG eingereichte Preis.)
– Sachdienlicher wäre für uns eine Ausführungs­bestimmung zur Preisübernahme durch den ZI und eine Verpflichtung zur automatischen Nennung der weltweiten Referenzpreise.

Neu Art. 71c KVV – Der Versicherer als Makler

In Art. 71c KVV wird versucht, den Import und die nachfolgende Abgeltung von verwendungsfertigen, im Ausland zugelassenen Arzneimitteln zu regeln, welche weder registriert sind noch eine SL-Listung haben.
Diese Bestimmungen werfen einige Fragen auf:
– Was wird als «gleichwertig anerkanntes Zulassungssystem» akzeptiert?
– Wie organisiert der Leistungserbringer einen Parallel­import ohne Intermediär?
– Wie verhält sich diese Bestimmung zum Verbot 
des Parallelimports von preisregulierten, patent­geschützten Arzneimitteln?
Diese Fragen bleiben unbeantwortet.

Neu Art. 71d KVV – Moral Hazard 2.0

In Abs. 4 wird ausgeführt, wie mit einem individuellen Therapieversuch (entspr. der Nutzenbewertung «C») verfahren werden soll.
Diese Änderung in der Verordnung ist nicht akzeptabel und muss entfernt werden:
– Die Nutzenbewertung im Nachgang zu einem Therapieversuch hebelt die Nutzenbewertung durch den Vertrauensarzt aus, wie sie für eine Kostenübernahme unter Art. 71a KVV gefordert wird. Mithin werden Kosten ohne Beachtung der WZW-Kriterien (Wirksamkeit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit) durch die Krankenpflegeversicherung übernommen.
– Eine kritische Würdigung einer Therapieoption durch den Vertrauensarzt wird verhindert. Dies ist umso bedauerlicher, als immer mehr Medikamente im Rahmen von «accelerated approvals» mit marginaler Datenlage zugelassen werden:
Meist sind nur Phase-I- oder Phase-II-Studien notwendig für die Zulassung in den USA. Die Effekte werden mit Surrogat-Markern bewertet, oft wird als Komparator entweder Placebo oder BSC (best supportive care) verwendet (siehe Tab. 1) [3].
Die wenigsten so zugelassenen Medikamente erfüllen die Bedingungen an einen «clinically meaningful outcome», wie sie von der American Society of Clinical Oncology [4] gefordert werden.

Fazit

Das BAG hat es verpasst, die bekannten Probleme von Art. 71a/b KVV zu lösen:
– Die Einbindung der ZI ins KVG wurde nicht umgesetzt: Die ZI sind noch immer nicht verpflichtet, Preisfestsetzungen der Versicherer anzuerkennen.
– Die Problematik des Nutzens von neuen Medikamenten, welche überwiegend mit Hilfe von Surrogat-Endpunkten zugelassen wurden, hat man akzentuiert.
Weiter ist festzustellen, dass den Empfehlungen der ständerätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 12.2.2014 zur Motion Steitert (12.3816) nicht in allen Punkten gefolgt worden ist: So wird nicht klar verhindert, dass «Patienten einen Teil der Kosten übernehmen müssen, weil die Herstellerfirma einen höheren Preis für ein Arzneimittel verlangt, als die Krankenkasse als wirtschaftlich beurteilt». Es hätte unseres Erachtens nichts dagegen gesprochen, den Tarifschutz (Art. 44 KVG) in die neuen Bestimmungen zu integrieren.
Die Verordnungsänderung zeigt weiter eindrücklich, wie sich das BAG um eine entscheidende gesellschaftliche Frage drückt, zu deren Beantwortung das Bundesgericht im eingangs erwähnten Entscheid BGE 136 
V 395 aufgefordert hat:
– Welche Kosten und Leistungen kann und soll unser Sozialversicherungssystem noch finanzieren?
– Wo liegt die Grenze?
Es wäre nun an der Zeit, statt die Kraft für eine fragwürdige Änderung einer Verordnung zu verschwenden, endlich den politischen und gesellschaftlichen ­Dialog über den Begriff «value» zu initiieren. Wir werden dieser Diskussion nicht ausweichen können!
Beat Kipfer
Carsten Witzmann
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