Ignazio Cassis zur anstehenden Parlamentsdebatte zum Tabakproduktegesetz*

«C'est la démocratie»

Tribüne
Édition
2016/47
DOI:
https://doi.org/10.4414/bms.2016.05165
Bull Med Suisses. 2016;97(47):0

Affiliations
Dr. med. et lic. phil., Chefredaktor

Publié le 23.11.2016

In der bevorstehenden Wintersession wird der Nationalrat das ­Tabakproduktegesetz behandeln. Die Mehrheit der von Nationalrat Ignazio Cassis präsidierten Gesundheitskommission des Nationalrats (SGK-N) will das Gesetz nicht an den Bundesrat zurückweisen und weicht damit von der Linie des Ständerats ab. Der ehemalige Tessiner Kantonsarzt erläutert im Kurzinterview, was dies für das Gesetz bedeutet.
Ignazio Cassis, die Gesundheitskommission des Nationalrats (SGK-N) will das Tabakproduktegesetz im Gegensatz zum Ständerat nicht an den Bundesrat zur Überarbeitung zurückweisen. Steigen damit die Chancen, dass die Vorlage des Bundesrats durchkommt?
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«Referendum wahrscheinlich»: Nationalrat Ignazio Cassis.
Es würde vor allem keine Zeit verloren: Eine Rückweisung hätte eine Verzögerung der Vorlage um rund zwei Jahre zur Folge. Wir müssen bei den Tabakprodukten eine Gesetzeslücke schliessen. Diese Erzeugnisse waren bis anhin im Lebensmittelgesetz geregelt und wurden bei dessen Revision ausgelagert. Sollte das vom Bundesrat vorgeschlagene Tabakproduktegesetz dem Parlament zu weit gehen, kann es die notwendigen Korrekturen selbst durchführen. Eine Rückweisung heisst dagegen: «Es besteht Handlungsbedarf, aber nicht so. Der Bundesrat soll nach den Vorgaben des Parlaments selber einen neuen Vorschlag bringen.» Aber dieses Gesetz ist technisch relativ einfach. Das Parlament kann die nötigen Entscheide gut selbst fällen. Zudem hat das Volk die Möglichkeit, via Referendum das letzte Wort zu haben.
Der Ständerat sprach sich gegen ein Werbeverbot für Tabakprodukte aus. Die freie Marktwirtschaft sei höher zu gewichten als die Prävention, war als Argument zu hören. Ist eine solche Argumentation nicht zynisch, wenn es um erwiesenermassen schwer gesundheitsschädigende Produkte geht?
Würde man in einem liberalen Staat alles verbieten, was der Gesundheit schadet, dann hätte man keinen ­liberalen Staat mehr. Freiheit – auch diejenige, sich ­selber zu schädigen – wird tatsächlich in vielen Welt­regionen höher gewichtet als Gesundheit. Dafür haben während Jahrhunderten viele Völker gekämpft. Prävention ist heute positiv besetzt. Sie kann aber in eine Bevormundung der Menschen entgleisen, wie man aus der Geschichte weiss. Bei der Drogenpolitik ist dies heute noch der Fall. Soll zum Beispiel jeder Mensch vom Staat vor sich selber geschützt werden? Wie viel ­Eigengefährdung, wie viel Eigenverantwortung will sich eine Gemeinschaft leisten? Wo liegt die Grenze? Das sind Fragen, die das Parlament stark beschäftigen und die von den verschiedenen Parteien unterschiedlich beantwortet werden. Das ist Demokratie.
Ist bei den herrschenden Mehrheitsverhältnissen im Parlament ein «griffiges» Tabakproduktegesetz im Sinne der Prävention und eines umfassenden Jugendschutzes inklusive Werbeverbot überhaupt denkbar?
Zuerst müssen wir sehen, ob der Ständerat an seinem Rückweisungsentscheid festhält. Sollte dies der Fall sein, dann wird die Vorlage mit gewissen Auflagen an den Bundesrat zurückgewiesen. Dazu zählen der Jugendschutz mit der schweizweiten Verankerung des Mindestalters 18 für den Erwerb von Tabakprodukten, die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für Testkäufe sowie das Verbot von Werbung, die sich speziell an Minderjährige richtet. Der Ständerat will aber keine zusätzlichen Einschränkungen der Werbung, der Verkaufsförderung und des Sponsorings. Ein allgemeines Werbeverbot geht bei Erwachsenen seiner Meinung nach zu weit. Die Freiheit wurde in diesem Punkt höher gewichtet.
Politik ist die Kunst des Machbaren. Was erachten Sie in der Schweiz in Bezug auf das Tabakproduktegesetz als machbar?
Bestätigt der Nationalrat im Dezember den Entscheid seiner Kommission, das Gesetz nicht zurückzuwei-
sen, so muss sich der Ständerat nochmals damit aus­ein­andersetzen. Wenn die bestehende Vorlage beraten wird, gehe ich ­davon aus, dass die Einschränkungen der Werbung, der Verkaufsförderung und des Sponsorings im Zusammenhang mit Tabakprodukten auf­geweicht werden und dass der föderalistische Ansatz gestärkt wird. Ob das Gesetz am Schluss immer noch mit dem FCTC** vereinbar sein wird, ist nicht sicher. Und das Volk wird nochmals das letzte Wort haben: Angesichts der heiklen Materie ist ein Referendum wahrscheinlich. Aber eben: ein Schritt nach dem anderen, ohne den Optimismus zu verlieren!
bkesseli[at]emh.ch